Die Publizistin Hannah Arendt hat sie einst als eine der „radikalsten und verzweifeltsten Erfahrungen des Menschen“ bezeichnet: Einsamkeit. Joachim Zdzieblo spricht mit dem Soziologen und Einsamkeitsexperten Dr. Janosch Schobin darüber, wie Einsamkeit zu einem drängenden Problem moderner Gesellschaften geworden ist, warum Männer in der Lebensmitte besonders gefährdet sind und ob sich Einsamkeit bald mit Medikamenten behandeln lässt.
Einige Länder wie Großbritannien und Japan haben mittlerweile Einsamkeitsministerien, die sich um das Thema in ihren Ländern kümmern sollen. Auch unsere Bundesregierung hat eine Strategie gegen dieses Phänomen auf den Weg gebracht: Hat sich Einsamkeit zu einem drängenden Problem moderner Gesellschaften entwickelt?
Ich würde sagen schon. Also schon aus den genannten Gründen. Es ist ein drängendes Problem. Das heißt jetzt nicht unbedingt, dass Einsamkeit mehr geworden ist, sondern dass wir andere Probleme mittlerweile einfach besser im Griff haben. Und die treten deswegen so ein bisschen in den Hintergrund.
Ich habe als Forscher relativ viel in Südamerika, auch in ärmeren Ländern geforscht. Und da gibt es Probleme, die viel drückender, viel drängender sind. Wenn der Staat zum Beispiel das Gewaltmonopol nicht richtig hat, ist man wesentlich mehr solchen Problemen wie Gewalt im Alltag ausgesetzt. Armut ist auch ein viel drängenderes Problem. Also wenn man nicht sicher ist, wo heute Abend das Essen herkommt, dann kümmern sich Regierungen nicht unbedingt um Einsamkeit. Aber in dem Maße, wie wir Wohlstandsgesellschaften geworden sind, treten diese Probleme in den Vordergrund. Einsamkeit ist auch in der dritten Welt ein Riesenproblem, aber sie steht einfach in der Rangordnung der Probleme nicht so weit oben. Einsamkeit ist eins der Top-Probleme in modernen Gesellschaften. Dieses Gefühl, nicht mehr dabei zu sein, dass die Beziehungen kaputt oder weg sind, dass man sich nicht wohlfühlt im sozialen Leben. Das beschäftigt die Leute und trübt auch so richtig ihr Wohlbefinden ein. Und das macht das Leben teilweise wirklich hart. Dementsprechend ist das mittlerweile „Bread and Butter“ einer Wohlstandsgesellschaft, sich mit dem Thema zu befassen.
Es gibt ja auch die These: Je einsamer die Menschen sind, umso weniger unterstützen sie die Demokratie und je weniger sie an der Demokratie teilhaben, umso einsamer werden sie.
Ja, das ist statistisch so. Ob das jetzt aus der Einsamkeit selber kommt, darüber wird noch ziemlich viel geforscht. Aber was man in den Statistiken sehen kann, ist ein ganzer Haufen Aspekte, die eigentlich alle in die gleiche Richtung gehen. Das eine ist zum Beispiel, dass einsame Menschen seltener wählen, also sie nehmen weniger an Wahlen teil. Sie haben geringes Vertrauen in praktisch alle politischen Institutionen, ob das nun Parteien oder das Parlament oder die Politikerinnen und Politiker sind. Aber auch in Ordnungsinstitutionen wie die Polizei, die Justiz.
Also das Vertrauen in das demokratische System ist geschwächt. Aber auch die Bindung an die Parteien ist schwächer. Das heißt, die Menschen fühlen sich seltener mit einer Partei verbunden. Das ist für Demokratien, gerade so repräsentative Demokratien wie unsere, ein wichtiger Nexus, weil die Parteien eigentlich ja die sind, die der Bevölkerung erklären sollen, wie die Politik funktioniert, und die mit den Bürger*innen reden, um Politik zu machen. Und wenn da keine Bindung ist, dann funktioniert das Transportsystem in beide Richtungen nicht. Und vor dem Hintergrund: Ja, da stimmt was nicht.
Was wir nicht wissen, ist, ob das die Einsamkeit selber ist oder ob es irgendwas im Hintergrund gibt, das zu beidem führt, das also die Einsamkeit und das Abkoppeln vom politischen System produziert. Das kann man nicht ganz ausschließen, weil die Studienlage noch sehr jung ist. Aber der Zusammenhang ist deutlich.
Das erklärt vielleicht den Aufstieg rechtsextremer Parteien, nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt?
Ja, die Pandemie wäre da so ein Grund. In der Pandemie hatten wir einen starken Anstieg der Einsamkeitsbelastung. Wir haben gleichzeitig auch gesehen, dass das Politikvertrauen ziemlich schnell abgenommen hat. Das wird jetzt nicht nur Einsamkeit gewesen sein, aber Einsamkeit wird da wahrscheinlich ein kleiner Faktor gewesen sein. Also wenn das kausal ist, würde ich auch vermuten, dass Einsamkeit eines der Zahnrädchen in dieser Mechanik ist, die im Moment wirklich ungut ist. Wenn man aktuell auf die Vertrauenswerte zum Beispiel in die politischen Parteien in Deutschland guckt, dann sehen wir im Moment so aus wie südeuropäische Gesellschaften. Da ist etwas zwischen Bürgern und dem politischen System kaputtgegangen. Und so richtig gekittet worden ist das nicht. In diese Lücke stoßen natürlich aktuell auch populistische Parteien. Und das macht einen eher unruhig.
Jetzt haben wir gesagt: Einsamkeit ist eines der Top-Themen moderner westlicher Gesellschaften. Es gibt aber auch die Gegenthese, dass die zunehmende Emanzipation der Frauen, der zunehmende Wohlstand, die Inklusion von Menschen mit Behinderung die Einsamkeit in der westlichen Welt reduziert haben. Was gilt denn nun?
Ich vermute, dass das tatsächlich so ist, dass das, was zum Beispiel Armut verhindert, bis zu einem gewissen Grad auch Einsamkeit reduziert. Denn ich glaube, eins der großen Missverständnisse zur Einsamkeit ist, dass die Leute immer denken, das passiert einem, wenn man die Beziehungen verliert, wenn man alle Beziehungen los ist. Aber ein Großteil der Einsamkeit wird in Beziehungen produziert, weil zum Beispiel Ehen mit Gewalt belastet sind oder man zu Hause auf kleinem Wohnraum mit 20 anderen wohnt und es da ständig Streit um alles gibt. Und diese Belastungen in den Beziehungen produzieren auch dieses Gefühl, dass meine Beziehungen schlecht sind, dass es mir mies geht. Und das produziert letzten Endes Einsamkeit.
Was man, glaube ich, eher beobachten kann, ist, dass wir eine Verschiebung der Einsamkeit haben. Wir haben typischerweise in ärmeren Gesellschaften Einsamkeit, die durch Stress in Beziehungen produziert wird. Und wir haben in modernen Gesellschaften immer mehr Einsamkeit, die durch Verluste und den Ausschluss aus Beziehungsnetzen produziert wird. Wir haben also nicht unbedingt mehr oder weniger Einsamkeit, sondern einfach andere Arten von Einsamkeit. Im Ganzen haben wir vielleicht sogar ein bisschen weniger Einsamkeit. Aber es ist einfach nicht mehr so ganz die gleiche Art der Einsamkeit, über die man spricht. Wir haben in Deutschland eine relativ große Gruppe von Leuten, die komplett aus allem rausgefallen sind. Die allein in ihren Wohnungen versterben. Da läuft dann plötzlich der Briefkasten über, und die werden dann gefunden und vom Amt abgeholt. Sowas passiert bei uns ziemlich häufig. In Lateinamerika, wo ich geforscht habe, gibt es nicht mal eine Statistik dazu.
Das wird nicht erfasst.
Nein, weil das zu wenige Fälle sind. Bei uns wird das übrigens auch noch nicht so lange erfasst. Bei uns wird das erst seit den 90er-Jahren erfasst, weil davor kannte man das bei uns auch nicht. In Japan fing man schon in den 80er-Jahren an, darüber Statistiken zu führen. Aber das war lange ein unbekanntes Problem. Und jetzt ist es auf einmal massiv da.
Du hast gesagt: Einsamkeit gibt es auch in Beziehungen. Man verbindet in der Regel Einsamkeit aber eher mit Alleinsein. Du hast vorher schon erwähnt, dass man einsam werden kann, wenn die Beziehung schlecht ist und man sich viel streitet? Gibt es noch andere Punkte, durch die man in der Partnerschaft einsam werden kann?
Das ist sehr kompliziert. Viele Sachen sind da leider auch nicht gut erforscht, muss man ehrlicherweise sagen. Wir haben in der Forschung eigentlich nur ganz einfache Indikatoren, wo zum Beispiel gefragt wird: „Wie zufrieden bist Du mit Deiner Partnerschaft?“ Oder: „Wie zufrieden bist Du mit Deinem Familienleben?“ Ich vermute, dass das ein sehr feingliedriges Problem ist, weil die sozialen Bedürfnisse von Menschen komplex sind. Klar, man redet zwar in groben Kategorien wie: „Ja, ich brauche affektive Bindung, ich brauche körperliche Nähe, ich brauche Zärtlichkeit.“ Aber wenn man sich den Menschen als Sonderwesen so anguckt, sind das natürlich viele Kleinigkeiten.
Und in Beziehungen kann viel kaputtgehen über Dauer. Das sieht man auch in vielen Studien, die sich die Beziehungsqualität angucken. Man sieht in der Regel, dass die Beziehungsqualität am Anfang ziemlich hoch ist. Aber mit der Zeit sieht man sehr häufig, dass Beziehungsqualitäten erodieren, schlechter werden. Und die Frage ist dann immer: Fällt das jetzt für beide irgendwann unter einen Schwellenwert, der nicht mehr zu ertragen ist? Und das können unterschiedliche Gründe sein. Das kann sein, dass etwas mit dem Sex nicht mehr stimmt und die körperliche Nähe fehlt. Das kann auch sein, dass man sich intellektuell auseinanderentwickelt und dann nichts mehr miteinander zu besprechen hat. Was man in langen Ehen kennt, ist dieses Phänomen, dass man ein besonderes Wissen über die Schattenseiten des anderen aufbaut. Und was in Ehen ja häufig passiert ist, dass Partner anfangen, sich regelrecht zu hassen. Die verlieren irgendwann komplett die Achtung voreinander. Die hassen sich wirklich irgendwann.
In Lateinamerika kann man sich häufig nicht scheiden lassen. Es ist einfach praktisch nicht möglich, sich scheiden zu lassen. Lange gab es kein Scheidungsrecht. In Chile gibt es erst seit 2004 ein Scheidungsrecht. Aber selbst danach ist Scheidung häufig einfach zu kostspielig, zu aufwendig, mit zu vielen Problemen im Umfeld belastet. Und dann hat man Leute, die sich wirklich hassen. Und die leben zusammen.
Oh Gott, ein Alptraum.
Das ist auch der Grund, warum moderne Gesellschaft, glaube ich, weniger einsam sind, weil wir ein solides Scheidungsrecht und eine gewisse Scheidungskultur haben, in der man probiert, sich vernünftig zu trennen, vielleicht auch Freunde zu bleiben. Das hat sehr viele Vorteile verglichen mit der Form, in der man zwar zusammenlebt, aber sich abgrundtief hasst.
Absolut! Die Menschen neigen ja auch unterschiedlich zu Einsamkeitsempfindungen. Wovon hängt das ab, ob ein Mensch sich mehr oder weniger einsam fühlt?
Nach allem, was wir wissen, ist das zum Teil einfach Veranlagung. Dazu muss man wissen, dass wir ja nicht die einzige Spezies sind, die vermutlich einsam ist. Bei Menschenaffen sind wir da auch ziemlich sicher. Wenn Du Schimpansen isolierst und wegsperrst, gehen die daran so zugrunde wie wir. Also man kann davon ausgehen, dass sie ähnlich wie wir einsamkeitssensibel sind. Das war vermutlich irgendwann mal in der Entwicklung unserer Spezies ein Überlebensvorteil, Einsamkeit empfinden zu können, also sensibel zu sein für soziale Verletzungen und darauf reagieren zu können. Das ist ja auch plausibel. Wir sind eine Spezies, die nicht deswegen so erfolgreich ist, weil sie besonders stark ist oder besonders schnell rennen kann, sondern wir sind ja vor allen Dingen erfolgreich, weil wir uns sehr gut organisieren können.
Und kooperieren.
…und kooperieren können. Wir sind unter den Menschenaffen die kooperativste Spezies. Und man muss deswegen vermuten, dass wir von den Menschenaffen am oberen Ende angesiedelt sind. Wir sind wahrscheinlich sehr schnell sehr einsame Primaten oder sehr einsamkeitsfähige Primaten. Populationen, für die das einen Vorteil darstellt, halten immer ein Spektrum vor. Wenn es irgendwelche äußeren Anlässe gibt, kommt die Frage auf, wie viel Einsamkeit unsere Spezies eigentlich so im Mittel braucht. Deswegen ist es immer sinnvoll, dass es in der Population eine Bandbreite gibt. Dass man genügend Leute vorrätig hat, die praktisch keine Einsamkeit empfinden, bis zu denen, die sehr einsamkeitssensibel sind. Und dass es dann, wenn es zu einem Selektions-Event kommt, wir die entsprechenden Anpassungsfähigkeiten haben.
Rein praktisch äußert sich das dadurch, dass man, wenn man Leute fragt, alle Antworten kriegt. Du findest Leute, die jahrelang praktisch ohne sinnvolle Kontakte leben, extrem zäh sind und das super gut ertragen können. Und Du findest Leute, denen die kleinste Kränkung reicht und die tagelang einsam sind. Die meisten liegen halt irgendwo dazwischen.
Du hast gesagt, dass es gut ist, wenn es in der Population unterschiedliche Grade gibt, von nicht einsam bis sehr einsam. Hat Einsamkeit vielleicht auch eine positive Seite, ähnlich der Langeweile? Wenn sich Menschen langweilen, werden sie kreativ. Das weiß man. Wenn Menschen einsam sind, werden sie dazu motiviert, neue Kontakte zu knüpfen. Ist da was dran oder ist die Schlussfolgerung falsch?
Das ist genau das, was eigentlich passieren soll. Man geht in der Evolutionspsychologie davon aus, dass die Einsamkeitsreaktion erstmal zwar negativ ist, man diese unangenehmen Empfindungen hat, die einen auch eher dazu bringen, sich aus dem Sozialen zurückzuziehen, soziale Bedrohungen stärker wahrzunehmen und, wenn man so will, Schlaglicht auf das Soziale zu werfen und zu gucken: Okay, was stimmt hier nicht? Aber dass dann nachgelagert das sogenannte Reaffiliationsmotiv greift. Das heißt, dass man einen Impuls verspürt, in soziale Beziehungen zu investieren, soziale Beziehungen zu kitten, neue Beziehungen zu suchen, das soziale Feld nach Anschlussmöglichkeiten zu sondieren, wenn da Beziehungsverluste zum Beispiel im Raum gestanden haben. Das ist die Idee. Also Einsamkeit ist eigentlich so eine Art negativer Anreiz, ins Soziale zu investieren. Das ist die Vorstellung. Was nicht so klar ist, ist, warum das manchmal schiefgeht. Also warum wir Leute haben, bei denen das zum Beispiel nicht klappt. Also die…
…in der Einsamkeit verharren.
Ja, oder die auf eine starke Einsamkeitsempfindung mit Rückzug reagieren, aber dann aus irgendeinem Grund lernen, dass das die optimale Strategie ist und dann immer mehr davon machen. Das ist tatsächlich nicht klar, wer dazu prädisponiert ist, also wer dazu eine Neigung hat. Da wissen wir praktisch nichts drüber.
Wenn man biografische Interviews mit Leuten macht, die stark vereinsamt sind, wird schon deutlich, dass es einen Typus gibt, bei dem das irgendwie ein Selbstläufer wird. Das sind nicht nur die äußeren Umstände, sondern die Person selber zeigt am Anfang sowas wie eine Trotzreaktion. „Die mögen mich nicht, dann will ich auch nichts mit denen zu tun haben.“ Und dann wird es besser und dann lernen sie „Ah, das funktioniert ja, also ziehe ich mich besser noch mehr zurück, mache noch weniger soziale Kontakte, halte mich noch mehr aus allem raus.“ Das wird eine fatale Strategie. Wer dazu neigt, wir wissen nicht und wir wissen auch nicht genau, was da die „Nuts and Bolts“ [Schrauben und Muttern] sind. Aber das gibt es.

Jetzt weiß man ja seit Längerem, dass es zwei Alterspeaks der Einsamkeit gibt. Einmal als alter Mensch, wenn die Partnerin oder der Partner verstorben ist, die Kinder ganz woanders leben und man durch Krankheit weniger mobil ist und der eigene Radius immer kleiner wird. Und der andere Peak ist in jungen Jahren, wenn man von Zuhause in eine andere Stadt zum Studieren oder zur Ausbildung zieht und sich von null auf einen neuen Freundeskreis aufbauen muss. Inwiefern unterscheiden sich die Ursachen von Einsamkeit in der Lebensmitte von denen in jungen oder in alten Jahren?
Der typische Fall in einer Gesellschaft wie unserer ist, dass die Leute unterschiedliche normative Phasen durchlaufen. Also wir haben diese Jugendphase, die Du ansprichst, mit ziemlich großen Freundeskreisen. Dann verlässt man das Elternhaus, hat den Übergang in die erste feste Partnerschaft. Und dann kommt typischerweise eine Familiengründungsphase. Das ist bei uns alles nicht mehr ganz so normativ. Das heißt, man hat sehr viele Leute, die das ganz anders machen. Wir haben also mittlerweile differenzierte Lebensverläufe. Im Mittel stimmt das aber noch und da ist schon so ein Normaltypus, dem viele Leute folgen.
In der Lebensmitte haben wir häufig diese Leere-Nest-Phase, die ihre eigenen Herausforderungen hat. Ähnlich wie in der Jugend findet hier noch mal so eine Um- oder Neuorganisation des Freundeskreises statt. Also da sieht man einen kleinen Peak in den Freundschaften. Man findet noch mal ein paar zusätzliche Freunde. Die Partnerschaften verändern sich auch, weil die Phase, wo man dafür sorgen musste, dass die Brut nicht verreckt, dann durch ist. Und in dem Zusammenhang findet einfach ziemlich viel Umwälzung statt, die Einsamkeit auslösen kann, die aber auch Potenziale für neue Beziehungen und veränderte Beziehungsmuster bietet.
Was ja auch in der Lebensmitte häufiger passiert, ist zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes oder auch eine Trennung. Wer ist denn häufiger von Einsamkeit betroffen, wenn wir jetzt mal die Geschlechter anschauen, Männer oder Frauen?
Das ist immer die Frage, wie man es erhebt, leider Gottes. (lacht). Wenn man die globalen Studien nebeneinanderlegt, würde man sagen, dass vermutlich die Männer tatsächlich die Einsameren sind. In Deutschland ist es allerdings ziemlich deutlich, dass, wenn man nach Selbstauskunft geht, eher die Frauen einsam sind. Zum Beispiel, wenn man die Leute fragt: „Wie einsam bist Du?“ Oder teilweise stellen wir auch Fragen mit Zustimmungsskalen wie „Ich fühle mich oft ausgeschlossen.“ Oder: „Mir fehlt es an Geselligkeit.“ Wenn man solche Items hat und daraus Skalen macht, ist es typischerweise so, dass bei uns die Frauen höhere Einsamkeitswerte angeben.
Wie sehr das ein Artefakt der Instrumente ist, ist schwer zu sagen. Es gibt ein paar Gründe, von denen man annehmen könnte, dass die stimmen. Also Frauen sind bei uns zum Beispiel häufiger von Armut betroffen als Männer. Und Armut ist einer von diesen Fernursachen, die Einsamkeit begünstigen können, weil man einfach nicht die Ressourcen für soziale Beziehungen hat. Von der Seite würde das passen. Aber ich habe einen Indikator erhoben, und das sind die Amtsbestattungen. Amtsbestattungen in Deutschland kann man nach Geschlecht aufschlüsseln, und das sind überproportional viele Männer.
Vom Amt bestattet heißt: Da stirbt ein Mann oder eine Frau einsam und alleine in der Wohnung. Es gibt keine näheren Angehörigen oder die haben keinen Kontakt mehr. Und Wochen, Monate später wird dann, weil im Treppenhaus ein unerträglicher Gestank ist, das Amt benachrichtigt, und die Wohnung wird aufgebrochen und dann holt man den Leichnam raus?
Genau, das ist dann die sogenannte Wohnungsleiche, was Du gerade beschreibst. Die ist tatsächlich ein bisschen seltener als die Ordnungsamtsbestattung. Die Wohnungsleiche gibt es allerdings auch relativ oft, leider Gottes. Der üblichste Fall ist tatsächlich, dass ein Mann im Krankenhaus verstirbt und einfach nicht abgeholt wird. Das Krankenhaus oder das Hospiz hat dann meistens ein Kühlfach, in das der Leichnam dann landet, aber es gibt keine nahen Angehörigen, die sich um den Leichnam kümmern. Und dann springt das Ordnungsamt ein. Das ist der typische Fall.
Über das Amtsdeutsch kann man lustige Storys erzählen. Ich war einmal in einem Ordnungsamt, wo ich mir das habe erklären lassen, wie das abläuft. Und da sagte die Amtsleitung tatsächlich zu mir: „Herr Schobin, Sie müssen sich das vorstellen wie ein falsch abgestelltes Fahrzeug. Das gehört da nicht hin. Und dann müssen wir das ersatzweise…“
…umbetten das Fahrzeug.“ Ja, mein Gott, irgendwie müssen die wahrscheinlich auch lernen, damit umzugehen, weil sonst greift es sie wahrscheinlich auch persönlich an.
Genau, das ist, glaube ich, auch der Hintergrund. Das ist alles ziemlich schwierig. Vor allen Dingen haben die Mitarbeiter in den Ämtern viel Ärger mit den Hinterbliebenen. Da gibt es regelmäßig böse Anrufe. In Deutschland haben die Leute, die vom Amt bestattet werden, häufig irgendwelche Hinterbliebenen. Nur haben sie keinen Kontakt mehr zu denen. Und die kriegen dann irgendwann eine Rechnung von einem Amt, meistens nach einem Jahr, und sollen die Bestattung bezahlen. Und die regen sich häufig total darüber auf, weil sie keinen Kontakt mehr zu dieser Person haben und auch nicht wissen, was das soll. Und die rufen dann auf den Ämtern an, meistens sind das Ordnungsämter. Und die sind nicht auf Trauer, Tod und die ganzen Gefühle vorbereitet, sondern das ist eine Ersatzvornahme. Deswegen heißt das ja so wie mit dem Fahrzeug. Das ist, wie Du sagst, eine Schutzvorrichtung, die einem psychisch erlaubt, das zu machen.
Man lernt von den Ämtern viel, wie das zustande kommt. Diese Leute, die da anrufen, sind häufig eigene Kinder und die Verstorbenen häufig deren geschiedene Väter. Es spielen also Ehescheidungen im Hintergrund eine Rolle. Die Beziehungen sind so zerrüttet, dass meistens zu dem Vater der Kontakt abgebrochen worden ist. Das fällt auch häufig in eine mittlere Lebensphase, so wie Du sagst. Das sind meistens Leute, die sich in den 80ern haben scheiden lassen, manchmal noch in den 70ern, ein paar in den 90ern. Ich habe ein bisschen die Hoffnung, dass das besser wird, wenn die Scheidungskultur besser wird. Also, dass diese typische Kosten-Nutzen-Rechnung einfach aufhört, nach dem Motto: Es ist, okay. Ich bezahle Dir keinen Unterhalt, ich sehe die Kinder nicht mehr, aber dafür behalte ich die Kohle.
Die Gerichte sind da, hoffe ich, auch hinterher, dass das nicht mehr passiert.
Ich glaube, das hat sich ein bisschen gebessert, aber wir hatten natürlich lange eine Rechtsprechung, die das auch befördert hat: Die Frauen behielten die Kinder und die Männer behielten das Geld. War schon eine ziemlich übliche Lösung. Und die war einfach für niemanden wirklich gut. Zumindest die Amtsbestattungen sprechen dafür, dass das eher in menschliche Katastrophen reingeführt hat.
Ja, so würde ich das auch sehen, menschliche Katastrophen… Vor wenigen Tagen ist Dein neues Buch „Zeiten der Einsamkeit“ erschienen. Ich finde das absolut lesenswert. Du stellst anhand von sehr bildlich-journalistisch beschriebenen Fallbeispielen unterschiedliche Einsamkeitstypen vor. Deine These ist: Einsamkeit hat nicht zugenommen, aber die Arten von Einsamkeit haben sich verschoben. Kannst Du erklären, wie Du das meinst?
Ich hatte ein Schlüsselerlebnis bei einer Frau in einem ärmeren Viertel von Santiago de Chile. Mit ihr hatte ich ein Interview geführt, und bei ihr fing die Einsamkeit schon in frühester Kindheit an. Das war wirklich schlimm. Der Vater war Trinker, hat die Mutter geschlagen und vergewaltigt und die Kinder geschlagen. Die hatte einfach keinen Schutzraum, schon als Kind nicht. Aber da, als kleines Kind, fing die Einsamkeit in ihrer Erinnerung schon an. Sie hat erzählt, wie sie einmal bei einer anderen Familie war, und gesehen hat, dass die Kinder Spielzeug haben oder dass die Kinder umarmt wurden. Das ist so eine fürchterliche Erinnerung für sie, die kaum zu ertragen ist. Bei ihr war immer nur Kälte und immer nur Härte. Diese Form von Einsamkeit hat mit Geschlechterdifferenzen zu tun und auch ganz viel mit Armut, wo die materiellen Bedingungen so hart sind, dass man keine echten Spielräume hat für ein gutes Leben.
Und da ging mir einfach ein Licht auf: Diese Art von Einsamkeit, die schon in der frühen Kindheit beginnt, sich dann irgendwann festsetzt und die die Leute gar nicht mehr loswerden, die haben wir wahrscheinlich weniger. Diese Einsamkeit wird fast wie ein Persönlichkeitsmerkmal, sitzt richtig tief und empfindet die Person immer in sich. Man kann sagen, sie ist wie ein chronischer Schmerz.
Wir haben diese Form weniger, weil die strukturellen Rahmenbedingungen für Familien durch Emanzipation und Gleichstellung besser geworden sind. Was wir dagegen eher haben, passiert auf der Schattenseite der Liberalisierung, zum Beispiel durch Trennung. Die Ehe ist nicht gut, man trennt sich und findet eine neue Beziehung. Dann wird das Leben wieder besser, die Einsamkeit geht wieder weg und im Mittel hat man bessere Beziehungen und deswegen weniger Einsamkeit. Aber man produziert dabei immer auch eine Verlierergruppe. Das sind Beziehungsmärkte, die auch bei Freundschaften sehr ähnlich sind. Sie sind sehr dynamisch, da verändert sich häufig was und man muss immer mal wen neues finden. Dann kommt immer jemand neues dazu und man verliert wieder eine alte Freundschaft. Das Risiko dabei ist, dass Gruppen entstehen, die da rausfallen. Und ich glaube, das merkt man in unserer Gesellschaft relativ schnell, wenn man mal selber in die Lage kommt, neue Freunde zu suchen zu müssen, weil man mit Mitte 40 wegen eines neuen Jobs umziehen musste. Dann merkst Du, Du kommst in Beziehungsmärkte rein, in denen es allen gut geht. Das ist in Deutschland so, wenn man auf die Beziehungszufriedenheiten guckt, sind die wahnsinnig hoch. Und das ist dann von außen extrem hermetisch, weil Du ständig auf Leute triffst, denen es gut geht. Die haben ihren Partner, die haben ihre Freunde, die sind happy.
Und die brauchen keinen neuen Freund.
Die brauchen jetzt keinen neuen mehr. Das heißt, bei uns entsteht eine Gruppe von Ausgeschlossenen. Die ist vielleicht nicht riesig, aber für die ist das Los doppelt hart, weil sie nicht wissen, wie sie da reinkommen sollen. In Lateinamerika ist es ziemlich schwer, aus dem Sozialen herauszufallen, weil das familialistisch strukturierte Gesellschaften sind. Du kommst da eigentlich nicht raus.
Du hast immer irgendwelche Verwandten, die um die Ecke wohnen oder Du wohnst vielleicht sogar in dem Haus von denen.
Und man hat auch was, was bei uns ein bisschen kontraintuitiv ist. Man hat eine viel stärkere Überlappung von Freundschaft und Verwandtschaft. In Chile, wo ich lange gelebt habe, ist es zum Beispiel üblich, dass man die Freunde seiner Eltern Onkel und Tante nennt. Die Familien, die sich miteinander befreunden, werden ein Verwandtschaftsanalogon. Das heißt, dass ich dem Freund nicht einfach die Freundschaft kündigen kann. Da kündige ich auch noch die Freundschaft der Eltern. Das ist gar nicht so einfach. Also man hat viel mehr Druck von außen.
Lustigerweise, wo Du es gerade sagst: Die Freunde meiner Eltern waren auch Onkel und Tanten für uns. Zumindest kenne ich das aus der früheren Zeit.
Das ist viel stabiler.
Es ist stabiler, ja. Ist das der „Stachel der modernen Einsamkeit“, von dem Du in Deinem Buch schreibst? Also man könnte ja meinen, wir haben Internet, wir können uns mit Leuten verbinden, die nicht im selben Ort leben müssen. Unser Radius ist also größer geworden. Wir müssen auch nicht mehr, wie Du es ja schon gesagt hast, Gefangene schlechter Beziehungen sein, weil Trennungen normal geworden sind und Scheidungen auch kein Makel mehr sind. Was meinst Du mit diesem Stachel der modernen Einsamkeit?
Ich glaube, das hat bis zu einem gewissen Grad damit zu tun, dass einige Leute ein subtiles Gefühl dafür entwickeln, dass das alles vorläufig ist. Dass das alles auf Abruf ist. Dass das alles in Anführungszeichen keine echten Beziehungen sind, weil sie letzten Endes auf Widerruf sind.

Das sind ja die selbstgewählten Beziehungen.
Genau, die sind alle selbstgewählt. Die bestehen nur fort, wenn sie gut sind, sonst sind sie kaputt. Wenn die belastet werden, dann habe ich immer das Risiko, dass ich aussortiert werde, weil ich zum Ärgernis geworden bin. Das heißt, die Beziehungen haben eine gewisse Oberflächlichkeit, denn wenn es hart auf hart kommt, sind sie nicht belastbar. Diese Empfindung ist, glaube ich, eines der Probleme, die Leute dabei entwickeln. Gerade wenn man schon mal aussortiert wurde, kann man beim nächsten Mal nicht mehr voll reingehen, nicht voll vertrauen. Und ich glaube schon, dass das eine gewisse Form von Einsamkeit produziert, ich sage mal einen leichten Stachel, ein unangenehmes Gefühl, in dieser Beziehung vielleicht doch Verhandlungsmasse zu sein. Das ist unangenehm.
Ich bin also Freund auf Abruf. Ja, es ist dann vielleicht gar nicht schlecht, wenn man doch eine Familie hat. Man sagt ja immer: Blut ist dicker als Wasser. Also Familie hast Du immer. Du bist immer Sohn, du bist immer Vater. Da zu investieren, aber das erodiert ja auch, wie wir gehört haben. Beziehungen zwischen Eltern, Vater und Kindern gehen kaputt. Die Väter versterben dann irgendwann einsam. Also die Familie trägt vielleicht nicht mehr so wie früher.
Ich glaube, man muss das ein bisschen entspannter sehen. Ich glaube, dass unsere modernen Beziehungen sehr tragfähig sind, sehr solide sind und meistens dann auch, wenn sie schon ein paar Schwierigkeiten überstanden haben, auf ein echtes Beziehungskapital aufbauen können. Aber es ist in bestimmten Lebensphasen oder durch Trennungserlebnisse leicht, das Vertrauen darin zu verlieren. Es kann einem einfach passieren, dass man einen Schuss vor dem Bug bekommt und übermäßig in die andere Richtung korrigiert und zu sehr lernt: Das ist nicht belastbar.
Ich glaube auch, dass man mit Trennungen entspannt umgehen sollte, in dem Sinne, dass eine Trennung vielleicht nur auf einer Ebene stattfinden kann. Man hört vielleicht auf, der beste Freund zu sein und wird nur ein guter Freund. Das ist ja nicht das Ende der Welt.
Guter Freund ist auch nicht schlecht.
Ja, eben. Wenn diese spezielle Nähe, die man häufig am Anfang von Freundschaften hat, nicht mehr gegeben ist, dann muss man das halt auch seinen Weg gehen lassen. Das heißt ja nicht, dass man nicht weiterhin einen sehr guten Freund haben kann. Also diese Maximalforderungen an Beziehungen sind vielleicht überzogen. Vielleicht muss man Beziehungen ein bisschen wie Lebewesen sehen, die ihre Zeiten haben.
In Interviews findet man auch häufig Leute, die damit total gut fahren und die sehr breite Netzwerke haben. Gerade, wenn man zum Beispiel mit Menschen aus queeren Milieus spricht, haben die häufig Freunde, die mal Partner waren. Dann war irgendwann die sexuelle Anziehung nicht mehr da oder das, was man an sexuellem Projekt zusammen hatte, und dann werden das halt Freunde. Dann hat man die im Freundeskreis, und das ist auch gut. Die Beziehung hat eben eine andere Form angenommen. Immer in Begriffen von Verlust und Verrat zu denken, das macht uns noch zu schaffen. Das hat letzten Endes viel mit Beziehungsidealen zu tun, vor denen Beziehungen bewertet werden. Und das kann man leicht übertreiben.
Das ist eine entspannte Einstellung, die finde ich gut. Du schreibst auch, dass Einsamkeit und Schmerz verwandte Empfindungen sind. Beide werden in der gleichen Hirnregion verarbeitet. Heißt das im Umkehrschluss, dass man sie auch mit ähnlichen Mitteln bekämpfen kann? Also wird es bald eine Pille gegen Einsamkeit geben? Und wäre die gut?
Das wird tatsächlich erforscht. Es gibt unterschiedliche Ansätze. Es gibt zum Beispiel den relativ weit in der Forschung fortgeschrittenen Ansatz, durch Oxytocin-Gabe Therapieerfolge zu verstärken. Mit MDMA[1] wird zum Teil auch probiert, ein Gefühl von starker und guter Bindung zu induzieren.
[1] MDMA: Methylendioxyamphetamin, gewöhnlich als Ecstasy bezeichnet
Also man simuliert das quasi. Man fühlt sich dann aufgehoben, obwohl man keine großen Bindungen hat.
Wenn man sich anguckt, was Leute tun, die sehr einsam sind, kann man davon ausgehen, dass ziemlich viele Leute schon Substanzen nehmen, um Einsamkeit zu dämpfen. Alkohol ist ja der absolute Klassiker, weil das ein Schmerzmittel ist. Und wenn man Alkohol trinkt, fühlt man die Einsamkeit weniger. Die Statistiken, die wir dazu haben, zeigen einen ganz starken Zusammenhang von starken Einsamkeitsempfindungen und den Missbrauch von Alkohol, aber auch von Schmerz dämpfenden Medikamenten. Das hängt statistisch zusammen. Ich glaube, es ist extrem plausibel, dass das eine ganz typische Kompensationsstrategie ist. Das heißt, wir haben schon viele Leute, die irgendwas gegen Einsamkeit nehmen. Nur meistens ist das halt nicht optimal, weil gerade Alkohol, aber auch Schmerzmittel, viele Nebenwirkungen haben.
Absolut.
Ich war einmal von der Pharmaindustrie zu einem Vorgespräch eingeladen. Da wollten die genau dieses Thema scouten. Ich denke, dass es über kurz oder lang dazu kommen wird, fast unausweichlich, weil wir im Moment eine Medizinalisierungsdebatte haben. Das heißt, es geht um die Frage, ob es Kriterien für pathologische Einsamkeit gibt. Für Einsamkeit, die nicht mehr positiv ist, weil sie Dich nicht dazu motiviert, noch ins Soziale zu investieren, was zu tun, Dich zu verändern, sondern einfach Einsamkeit, die krankmacht. Und es ist von der Forschung her klar, da ist irgendwo ein Bruchpunkt. Irgendwann wird aus dieser lebensdienlichen, unangenehmen Einsamkeit, die mich dazu bringt, mich sozial zu verändern, eine Einsamkeit, die mich krankmacht. Das heißt, man wird auch vernünftige Diagnose-Kriterien entwickeln und sagen können: Ab hier ist es zu viel. Und in dem Moment, wo das passiert, stellt sich aus meiner Sicht die total offensichtliche Frage: Kann man solchen Leuten nicht medikamentös helfen? Und das kann man vermutlich.
Und besser als mit Alkohol.
Und man kann es vermutlich besser als mit Alkohol und mit weniger Nebenwirkungen. Und deswegen bin ich mir ziemlich sicher, dass das ab einem gewissen Punkt passieren wird. Da sind wir noch nicht, aber diese Debatte ist aus meiner Sicht unausweichlich. Und die Weichen sind da auch ziemlich klargestellt, wohin das geht. Ich würde auf die Pille gegen Einsamkeit wetten. (lacht)
Okay, Du würdest wetten. Schauen wir mal, welches Pharmaunternehmen zuerst damit rauskommt. Nehmen wir nochmal zum Schluss die Hörer des Podcast in den Blick. Was rätst Du Männern in der Lebensmitte, die drohen, einsam zu werden, oder schon in der Einsamkeit stecken?
Ja, das ist tatsächlich auch mit die schwierigste Zielgruppe in Deutschland, weil es für alle anderen mittlerweile ein relativ solides Unterstützungsnetz gibt. Also für junge Leute gibt es gute Angebote, klar nicht überall und nicht immer. Für ältere Leute, also so ab 65, gibt es eine gut ausgebaute Infrastruktur, an die man sich wenden kann. Für Menschen in der Lebensmitte ist das sehr schwierig. Es gibt mittlerweile in immer mehr Firmen Anlaufstellen in der betrieblichen Sozialarbeit, dass ich im Job selber, wenn man da zum Beispiel als neuer Mitarbeiter ankommt, und man fühlt sich im Job einsam, auf die zugehen kann.
Eine Schwierigkeit, die ich immer sehe, ist auf Fragen zu schauen wie: Wie ist man eigentlich aufgestellt? Ist man noch sozial eingebunden? Hat man noch Freunde? Hat man noch Interessen, soziale Interessen, denen man nachgeht? Oder hat man das schon nicht mehr? Also wie weit ist man auf dem Vereinsamungsweg schon in Richtung Rückzug? Und das macht einen großen Unterschied, denn, wenn ich noch ein gutes Residualnetz habe – ich habe noch ein, zwei Freunde – dann kann ich das aktivieren. Dann ist es eher eine Frage von Coaching, dass ich mir vielleicht eine externe Meinung hole oder jemanden, der mich dabei unterstützt. Und dann das, was ich an Netzwerk habe, zu aktivieren.
Freunde findet man am besten über Freunde. Wenn ich in Tätigkeiten sozialer Art drin bin, die mir Spaß machen, sagen wir mal, irgendeinen Sport oder irgendein Hobby, dann kann ich da reingehen. Da habe ich einen Aktivitätsfokus, da treffe ich Leute. Über die lernt man zum Beispiel auch Partner relativ gut kennen. Also wenn man das hat, kann man das aktivieren. Und da gibt es mittlerweile auch eine ganze Menge von Leuten, die das tatsächlich als Coachings anbieten und einem dabei helfen. Es gibt natürlich unterschiedliche Schwierigkeitsgrade. Also wenn man sich zum Beispiel schon sehr weit zurückgezogen hat, besteht das Problem, dass einem die sozialen Fertigkeiten einschlafen.
Das kommt teilweise auch schon aus der Jugend, aus dem jungen Erwachsenenalter. Manche Leute haben damit schon immer Schwierigkeiten und gehen das Problem nie an. Und so hast Du zum Beispiel Deine Jugendbuddies, mit denen es immer super lief. Und dann kommst Du in diese Mitte-30er-Phase, und diese Jugendbuddies sind einer nach dem anderen in ihre Familien abgewandert, haben ihr Leben gemacht und Du bleibst irgendwann übrig. Und Du hast aber in Wirklichkeit das Problem, das Du schon immer hattest, und zwar, dass Du ein Social-Skill-Defizit hast. Du hast gewisse Selbstpräsentationsfähigkeiten nicht. Du weißt nicht, wie Du in soziale Kontakte kommst. Sowas lässt sich zum Beispiel sehr gut durch Theaterkurse oder therapeutische Kurse abbauen. Das ist kein Schicksal.
Also einfach Learning by doing, Coaching.
Das sind Skills. Dafür kann man wenig Talent haben, wie für alles andere auch, aber wenn man ein bisschen Zeit reinsteckt, kann man da ziemlich gut drin werden.
Ja, das macht doch Mut.
Aber nochmal zur letzten Gruppe: Es ist echt schwer, gerade für Männer mittleren Alters, wenn man sich schon richtig zurückgezogen hat. Dann gibt es sehr viele psychologische Fallen, die von innen extrem schwer zu durchbrechen sind, wie das Gefühl, man ist nicht mehr liebenswert. „Auf mich kommt es sowieso nicht an. Warum sollte sich jemand mit mir abgeben wollen? Die sind doch eh alle mies da draußen. Denen sollte ich nicht vertrauen.“ Das wird richtig hermetisch von innen. Und da haben wir echt das Problem, dass wir dafür keine Stützstrukturen haben. Wir haben da nichts, was Männern in dem Alter wirklich helfen würde. Das ist eine ganz schwierige Zielgruppe.
Und schlimm ist ja auch, dass die häufig sehr funktional sind. Das heißt, die sind in ihren Jobs, die verdienen immer noch ihr Geld. Da ist nicht irgendein Amt, das sagt: Da stimmt was nicht, da muss mal jemand von der sozialen Arbeit vorbeigehen. Die fallen überhaupt nicht auf. So ist das auch zu verstehen, wie es zu diesen Ordnungsamtsbestattungen kommt. Weil diese Leute fallen nicht auf.
Titelfoto von Jordan McQueen auf Unsplash

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Der unsichtbare Schmerz: Männer, Einsamkeit und die Suche nach Verbindung
Die Publizistin Hannah Arendt hat sie einst als eine der „radikalsten und verzweifeltsten Erfahrungen des Menschen“ bezeichnet: Einsamkeit. Joachim Zdzieblo spricht in dieser Episode mit dem Soziologen und Einsamkeitsexperten Dr. Janosch Schobin darüber, wie Einsamkeit zu einem drängenden Problem moderner Gesellschaften geworden ist, warum Männer in der Lebensmitte besonders gefährdet sind und ob sich Einsamkeit bald mit Medikamenten behandeln lässt.
Interessante Links:
Das neue Buch von Janosch Schobin „Zeiten der Einsamkeit“: https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/janosch-schobin-zeiten-der-einsamkeit-9783446282674-t-5548
Janosch Schobin an der Universität Kassel: https://www.uni-kassel.de/forschung/decarbfriends/projektteam/dr-janosch-schobin/