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Todkrank und glücklich: Was man von einem Mann mit einer seltenen Erkrankung fürs Leben lernen kann.

Infusion

Stell Dir vor, bei Dir wurde in jungen Jahren eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert und die Ärzte sagen, dass Du die Lebensmitte nie erreichen wirst. Wie würdest Du Dein Leben leben? Und was wäre, wenn Du – aller Prognosen zum Trotz – das mittlere Lebensalter doch erreichst? Genau das ist Frank Hennemann passiert. Er leidet seit seiner Geburt an einer seltenen Erbkrankheit. Ein Gespräch über rauchende Eltern im Auto, Hunde als Lebensretter und Einsichten aus Sparkassenwerbung.

Frank, wie alt warst Du, als Du zum ersten Mal von Deiner potenziell tödlichen Erkrankung erfahren hast? Und wie hat man es Dir beigebracht?

Diagnostiziert wurde ich mit sechs Monaten als Baby. Ich habe dann schon in den ersten fünf Lebensjahren gemerkt, dass ich anders bin, weil ich öfters für Untersuchungen in die Klinik musste. Aber das war meine Welt, ich kannte ja nichts anderes als meine Welt.

Ich habe es dann zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr mitgekriegt. Wenn Du als typisches Kind in einem Eltern-Arzt-Gespräch mit dabeisitzt und hörst, von was die da reden, denkst Du: Meinen die mich? Reden die jetzt gerade über mich? Verstehe ich das richtig? Oder Du rausgehst und fragst: „Bin ich damit gemeint, dass ich nicht zehn Jahre alt werde? Bin ich damit gemeint?“ Und Du kannst es aber als Kind nicht verarbeiten. Du kannst es auch nicht verstehen. Das war das erste Mal, dass ich eine Lebenserwartung bekommen habe. Da war ich ungefähr sechs. Und meine erste Lebenserwartung sollte mit zehn zu Ende sein.

Wahnsinn. Was hat das in dem kleinen Frank ausgelöst im Alter von fünf, sechs Jahren?

Ja gut, ich habe halt verstanden, dass ich anders bin. Dieses „anders“ konnte ich aber für mich nicht verifizieren oder verstehen. Es war ja auch eine ganz andere Arzt-Patienten-Kommunikation damals. Heute zieht man ein Kind mit ran und erklärt es ihm. Das war damals gar nicht die Sache.

Man hat über das Kind hinweggeredet.

Also in der dritten Person, genau. Gut, das passiert heute auch noch, aber das ist egal. Das ist halt so gewesen.

Dann habe ich aber dieses zehnte Lebensjahr erreicht und wurde immer älter. Ich habe aber auch gemerkt, dass mein Körper ein bisschen anders funktioniert, weil ich eigentlich eine Stoffwechselerkrankung habe. Ich hatte als Kind Übergewicht und damit auch zu kämpfen, dass ich da schon die ersten gesellschaftlichen Ausgrenzungen erlebt habe, also Mobbing, so heißt das heute. Früher war ich halt das dicke Kind.

Ich habe mich aber relativ schnell damit auseinandergesetzt und mich zur Wehr gesetzt, indem ich einfach sehr lustig war. Also mit mir war’s immer lustig. Ich war immer der Joker. Die Leute wollten bei mir sein, um einen lustigen Tag zu haben, weil ich schon ziemlich früh gelernt habe, mich nicht so ernst zu nehmen. Das war meine Bewältigungsstrategie.

Jetzt lüften wir mal den Schleier: Du leidest unter der seltenen Erbkrankheit Alpha-1-Antitrypsinmangel. Kannst Du sie kurz und für Laien verständlich erklären?

Ich versuch’s. Das „kurz“ ist eher meine Herausforderung… Alpha-1-Antitrypsinmangel ist eine genetische Erkrankung. Bei mir wird ein Protein in der Leber nicht richtig gebildet und kann dadurch die Leber nicht verlassen. Zu dem Zeitpunkt, wo ich klein war, ging man davon aus, dass ich an einer Leberzirrhose sterben werde. Und 1970 gab’s jetzt nicht so viele Möglichkeiten und Transplantation schon gar nicht und deswegen hat man das prognostiziert. Wobei ich sagen muss: Die Krankheit wurde erst vier Jahre vor meiner Geburt überhaupt entdeckt.

Im Erwachsenenstadium hat man festgestellt, dass ich kein Leber-Alpha bin, sondern ein Lungen-Alpha. Es gibt nämlich zwei Typen von meiner Erkrankung. Das Protein, das bei mir nicht richtig produziert wird, das Alpha-1-Antitrypsin, schützt meine Lunge im Falle einer Infektion davor, sich nicht selber anzugreifen. Das passiert bei mir oder ist über die Jahre passiert.

Das heißt: Hatte ich eine Infektion oder Influenza, sind die weißen Blutkörperchen losmarschiert, weil sie den Aggressor angehen wollten, und sind eben nicht auf die Gegenwehr des Proteins getroffen und konnten wild und zerstörerisch herrschen, was dazu geführt hat, dass ich heute nur noch 28 Prozent Lungenkapazität habe.

Die Symptome und Folgen von Alpha-1-Antitrypsinmangel ähneln der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung – COPD –, an der meine Mutter als starke Raucherin verstorben ist. Ich kann mir vorstellen, dass es zum einen viele Fehldiagnosen gibt. Und zum anderen, dass man mit starken Rauchern in einen Topf geworfen wird und wenig Empathie erfährt. War das bei Dir auch so?

Ja, Du hast genau diese zwei Situationen. Ich bin seit 2010 im Bereich der Patientenbetreuung tätig, und da wurde mir gesagt: Um Alpha-1-Antitrypsinmangel zu diagnostizieren, braucht es sieben Jahre und sieben Ärzte, weil wir symptomatisch sehr nah an den COPD-lern sind und manche Ärzte einfach nicht über ihren ersten Eindruck hinausschauen. Oder stigmatisiert schon denken: Na ja, der hat vielleicht geraucht, dann ist er ja selber schuld.

Das hat sich aber im Jahr 2024, in dem wir jetzt sind, nicht verändert. Trotz Digitalisierung dauert es immer noch sieben Jahre und sieben Ärzte. Und was Du auch sagst, dass wir als Menschen mit einer Lungenerkrankung sehr schnell stigmatisiert sind. Die Menschen urteilen sehr schnell über uns. Das ist das Gleiche wie bei Menschen mit einer Adipositas, also Fettleibigkeit. Da wirst Du genauso stigmatisiert. So ist es auch bei uns. Ich kriege dann, wenn ich huste, so Sprüche aufgedrückt wie „Rauche halt weniger.“ Oder: „Hör auf zu rauchen.“ Und das in der Öffentlichkeit. Ich meine, da legen sie sich bei mir tatsächlich mit dem Falschen an, weil ich sie dann sehr schnell auf links drehe. Aber das ist das, mit dem Du leben musst.

Ich nenne das eine unsichtbare Behinderung. Das heißt, man sieht nicht, wie krank ich eigentlich bin. Ich habe jetzt das Glück, noch keinen Sauerstoff 24/7 um meine Nase drum haben zu müssen. Das wird aber sicherlich kommen. Somit wirke ich natürlich für die meisten in meinem Auftreten sehr selbstsicher und gesund, bin aber todkrank. Das muss man so sagen.

Du hast vorher schon erzählt, wie Du das in der Kindheit erlebt hast. Kommen wir noch mal zurück zu deiner Kindheit: Waren Deine Eltern immer stark um Dich besorgt und haben sie versucht, Dich zu schützen?

Kennst Du diese klassische Szene, wo eine Familie mit einem VW Käfer in den Urlaub fährt, Fenster sind zu und beide Eltern rauchen? So war das bei mir auch. Aber sie wussten’s ja nicht besser. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Ich meine, wir sind alle diese Kinder der 70er, die ohne Anschnallgurt und ohne Kopfstützen gefahren sind. Ich frage mich immer, wie die Kinder heute das alles überleben, was wir Ihnen da an Regularien vorgeben. Wir haben’s nämlich auch überlebt und recht gut überlebt. Wie gesagt, ich kann meinen Eltern keinen Vorwurf machen. Das war auch für sie nicht greifbar, was diese Krankheit macht. Ich habe ja auch erst mit 30 wirklich verstanden, was da in meinem Körper passiert oder eben nicht passiert. Wir reden hier ja von einer „ultra rare disease“, also einer sehr seltenen Erkrankung.

Wie viele erkranken daran oder wie viele sind in Deutschland erkrankt?

Diagnostiziert und therapiert werden 1.600 – bei knapp 83 Millionen Deutschen. Eher gewinnt ein Pneumologe im Lotto, als dass er einen Patienten wie mich trifft. Ich, der ich mich auch sechs Jahre beruflich sehr stark mit der Krankheit auseinandergesetzt und Patienten europaweit betreut habe, bin einer der „Key Opinion Leader“. Also ich weiß mehr über Alpha-1-Antitrypsinmangel als die meisten Pneumologen in Deutschland.

Das ist aber bei vielen Menschen mit einer seltenen Erkrankung so, dass sie sich ihr Know-how, ihr Wissen selbst aneignen, weil sie eben als Patienten oft auf Ahnungslosigkeit treffen. Da mache ich aber auch niemanden einen Vorwurf, weil die Fachkreise nicht alle 3.000 seltenen Erkrankungen kennen können, die es da gibt. Deswegen ist es an uns, den Arzt ein bisschen aufzuschlauen.

Ich kam dann in die Pubertät, wurde schlank und rank, musste aber immer noch jedes Jahr in die Klinik. Die sagten: „Nee, ist alles in Ordnung. Leberwerte sind gut.“ Zu dem Zeitpunkt wusste man noch nicht, dass es zwei Wege gibt, wie diese Erkrankung wirkt.

Schauen wir mal auf die Pubertät. Du hast gesagt, Du warst in der Kindheit ein Sonderling. Warst Du in der Pubertät, die ja an sich schon eine schwierige Zeit ist, gut integriert in einen Freundeskreis oder warst Du wegen Deiner Krankheit immer noch ein Sonderling?

Nein, zu dem damaligen Zeitpunkt war das nichts, mit dem ich hausieren gegangen bin. Und man hat es mir auch nicht angemerkt, wie Du es mir heute anmerkst, dass ich eine Erkrankung habe, weil sich mein Emphysem, also diese Atemnot, erst mit 35 gebildet hat. Ich habe mit einer Ausnahme mit etwa 28, 27 Jahren ein unbeschwertes Leben geführt. Ich habe mich ganz normal wie jeder Heranwachsende ausprobiert. Ich war viele Jahre als Türsteher tätig.

Vor einer Disco?

Ja, ja. Ich war in übelsten Kaschemmen Türsteher. Und das war ja wieder ein Vorteil, weil ich dick war und gehänselt wurde, musste ich mich mit dem Mundwerk wehren. Und das konnte ich dann später für diese Tätigkeit wieder nutzen, so dass sich keiner getraut hat, mir verbal dumm zu kommen, weil ich den platt geredet habe. Der konnte nicht mehr bei drei auf einen Baum rennen. Das hat mich halt zu dem Menschen gemacht, der ich bin.

Das ist auch so ein Schritt, wie Du erwachsen wirst. Man hat mir immer gesagt, ich darf nicht trinken, weil ich eine Lebererkrankung habe. Und ich habe tatsächlich bis zu meinem 35. Lebensjahr keinen Alkohol getrunken – null, niente. Nicht mal am Geburtstag das Gläschen Sekt. Aber es hat mir auch nichts gefehlt. Dafür habe ich geraucht, was umso dämlicher war, aber damals habe ich für mich so eine Trotzhaltung entwickelt: Ich rauche jetzt, ich habe die Lebenserwartung von 30 Jahren bekommen – so what. Was wollt ihr eigentlich von mir? Warum soll ich dieses fucking Life nicht genießen bis zu dem Punkt, wo mir das Licht ausgeschalten wird. Ob ich mich wie ein Pfarrer verhalten habe oder vegan gelebt habe oder gesund gelebt habe: Mein Counter zählt ja trotzdem.

Frank Hennemann
Frank Hennemann (Foto: privat)
Du bist Jahrgang 70 – genau wie ich – immer noch quicklebendig und in der Lebensmitte. Die Lebensmitte ist ja bei vielen eine Zeit der Krisen – Stichwort: Midlife Crisis. Eine dieser Krisen ist die Sterblichkeitskrise: Ich nehme bewusst wahr, dass mein Leben endlich ist und ich sterben werde – und zwar weil ich das z.B. bei meinen Eltern miterlebe oder miterlebt habe. Jetzt hast Du diese Sterblichkeitskrise schon in jungen Jahren gehabt. Ist die Midlife Crisis dadurch komplett an Dir vorübergegangen?

Sie war anders für mich, glaube ich. Ich habe mit 27 eine Sinn- und Lebensfragenkrise gehabt, weil das normale Leben ja nicht gesagt hat: „Hey, weil der Hennemann schon so viel an der Backe hat, packen wir dem jetzt nicht noch mal was oben drauf.“ Das war natürlich nicht so. Ich wurde damals reingelegt, habe mich finanziell schwer verschuldet und war ziemlich allein. Ich bin in eine echte Depression reingegangen, eine schwere Depression, und hätte ich damals nicht meine drei Hunde gehabt, hätte ich gesagt: Ich nehme jetzt mein Motorrad, rase mit 180 gegen einen Brückenpfeiler und schieße mir das Licht aus. Auch perspektivisch, weil ich ja immer noch diese Lebenserwartung im Hinterkopf hatte.

Aber dann haben mich sechs Augen angeschaut und gesagt: „Alter, Du kannst hier nicht den Flüchtemann machen. Bleib mal schön da. Du hast die Verantwortung für uns übernommen.“ Und dann habe ich mich wieder berappelt und die Probleme angegangen. Stück für Stück habe ich sie alle weggearbeitet, auch mit Hilfe meiner Familie, glücklicherweise, die mich dabei unterstützt hat. Und dann war ich wieder zurück, ganz normal.

Da habe ich das auch mitverarbeitet und das erste Mal verstanden, dass ich für mein Leben verantwortlich bin. Das war dieser Moment, wo ich gesagt habe: Ich kann nicht anderen dafür die Schuld geben. Und das macht unsere deutsche Gesellschaft unglaublich gerne, das sieht man jetzt auch im politischen Umfeld. Ich mache andere für mein Nichthandeln, für meine Defizite, für meine Faulheit, für was auch immer verantwortlich und warte darauf, dass jemand an der Tür klingelt und sagt: „Hey, ich ändere dein Leben!“ Es klingelt aber keiner.

So suchst Du Dir also einen Schuldigen, an den Du Deine eigene Verfehlung wegschieben kannst. Das ist ja menschlich völlig normal. Manche lieben es auch, sich schlecht zu fühlen. Die brauchen dieses schlechte Gefühl für sich. Also es gibt Menschen, die Gutes lieben. Es gibt aber auch Menschen, die brauchen das Schlechte für sich. Und davon habe ich mich verabschiedet. Ich habe mir gesagt: So will ich nicht sein. Ich bin verantwortlich, ich mache die Tür auf, ändere mein Leben und mache niemanden verantwortlich für das, was ich nicht mache, wo ich nicht mutig bin. Das ist mein Leben und meine Verantwortung. Diese Erkenntnis war im Umkehrschluss auch ein Geschenk. Ich habe dann auch verstanden, dass nicht der schnöde Mammon zählt, das dicke Auto, der Klunker, die dicke Uhr am Arm. Das ist alles völlig boogie, das ist völlig egal.

Ein gutes Gespräch, ein schöner Austausch, unser Podcast jetzt – das sind Momente, die wertvoll sind. Und das zu erkennen und zu bewerten, ist auch ein Geschenk meiner Erkrankung.

Du hast dann trotzdem in den mittleren Jahren – man sagt, zwischen 40 und 60 ist die Lebensmitte – nochmal einen Umschwung beruflicher Art gehabt.

Genau. Ich war sehr erfolgreich im Vertrieb. Man hört ja, ich bin verbal sehr gefeilt, und ich war ein sehr guter Verkäufer, war auch schon Vertriebsleiter und Sales Director. Aber es hat mich nicht befriedigt. Ich hatte gut verdient, aber am Abend habe ich mich gefragt: War’s das jetzt? Ist das das, was ich bis zum Ende meines Lebens machen möchte? Gibt mir das nur dieses Gefühl „mein Haus, mein Baum, mein Auto, mein Tralala“? Habe ich damit etwas für mich geändert oder besser gemacht?

Ich hatte dann mit 40 tatsächlich diese Sinnkrise, ich nenne es nicht Lebenskrise, weil ich die ja davor hatte. Ich hatte diesen Terminus im Kopf „Ich bin selber verantwortlich für mein Glück“ und habe ganz dreist jemanden in der Pharmaindustrie angeschrieben: Bei Euch könnte ich doch arbeiten, weil ich diese Geschichte habe. Ich wäre eigentlich der Richtige für Euch.

Also ein Pharmaunternehmen, das sich auf diese Krankheit oder seltene Lungenerkrankungen spezialisiert hat.

Genau. Ich kriege alle zwei Wochen eine Therapie, die dieses Unternehmen entwickelt hat. Und bei dem habe ich mich einfach beworben. Ich werde seit 2004 substituiert und 2010 habe ich die Flasche gesehen, in der dieses Mittel drinnen ist. Ich habe mir den Namen aufgeschrieben, bin nach Hause gegangen und habe bei LinkedIn geschaut, wer der Managing Director des Unternehmens ist. Und dem habe ich kackedreist eine Nachricht geschickt. Und der fand dieses Kackedreiste sehr interessant, weil dies vorher noch keiner gemacht hat.

Er hat mich nach Frankfurt eingeladen und dann gab es einige Vor- und Rückwärtsbewegungen, weil es bei Pharma viele Regularien gibt, die es nicht einfach erlauben, jemanden „von der Straße“ einzustellen. Er hat dann in den USA geschaut, wo eine Stelle „Patient Advocacy Manager“ besetzt war, also eine Schnittstelle zwischen der Industrie und den Patientenorganisationen. Ich habe die Jobdescription, also die Stellenbeschreibung, gelesen und gesagt: „Das, was ich da lese, bin ich.“

Er ist dann dieses Wagnis eingegangen und hat diese Stelle für Europa geschaffen und mich, der ich Null Ahnung von Pharma und keine medizinische Ausbildung hatte, aber eben 40 Jahre gelebte „Patient Journey“, eingestellt. Und dann bin ich erstmal zwei Jahre in die Pharmaschule gegangen und habe ganz von vorne angefangen.

Zur Erklärung: Substituiert heißt, dass das Enzym von außen zugeführt wird.

Genau, das Alpha-1-Antitrypsin, das bei mir in der Leber falsch produziert wird und in der Leber verbleibt, bekomme ich von Plasmaspendern. Es wird aus dem Plasma extrahiert, und dieses kriege ich alle zwei Wochen, um meinen Spiegel von Alpha-1-Antitrypsin, das wir alle im Blut haben, auf dem Level eines gesunden Menschen zu halten und so meine Lunge davor zu schützen, dass sie nicht diesen Blödsinn macht, den sie macht.

Wenn man oberflächlich auf Dein Leben schaut, denkt man, dass Du ein Leben eines „normalen“, sprich eines nicht chronisch kranken Mannes führst: Du hast eine berufliche Karriere verfolgt, davon haben wir schon gehört. Du hast eine Familie gegründet, Du fährst Motorrad oder bist Motorrad gefahren. Wie hast Du das geschafft? Ignorierst Du die Krankheit so gut es geht oder hast Du sie geschickt in Dein Leben integriert?

Ich habe sie integriert. Ich beschreibe es Dir mal bildlich: Ich habe meiner Krankheit und auch dem Tod den Platz meines Schattens gegeben. Ich kann nach hinten schauen, dann sehe ich ihn. Aber wenn ich nach vorne schaue, weiß ich zwar, dass er da ist, aber dann ist er nicht immer präsent.

Das ist so, wie ich lebe. Ich lebe sehr bewusst und gehe auch sehr offen damit um. Alle Menschen in meinem Umfeld wissen, dass ich das habe. Ich muss mich auch bei niemandem entschuldigen oder rechtfertigen, weil ich mal nicht zu einer Party oder Veranstaltung kommen kann, weil mir entweder die Luft fehlt oder wir – wie jetzt gerade – wieder hohe Covid-Zahlen haben, die für mich den Tod bedeuten können. Ich habe die Krankheit, aber ich bin sie nicht.

Wie hat die Erkrankung Deine Beziehungen zu Familie und Freunden beeinflusst?

Ich nehme mal ein Beispiel: Du kennst dieses klassische Bild: Papa rennt hinterher, wenn ein Kind Fahrradfahren lernt. Das ging natürlich bei mir nicht, weil ich schon nach drei Meter mit Atemnot stehen geblieben wäre. Wir haben das so gemacht: Wir hatten einen leicht abschüssigen Hof vor dem Haus und die Jungs sind immer runtergerollt und hochgelaufen, runtergerollt und hochgelaufen und irgendwann haben sie getreten und konnten Fahrrad fahren. Also man lernt darum herumzuleben oder herumzubauen und sich Alternativen zu suchen, um trotzdem so normal und natürlich wie möglich zu sein und diesen Einschränkungen nicht immer diese Präsenz zu geben. Das ist ein Automatismus. Ich bin jetzt gelebt schon immer krank und habe das immer schon so vollführt.

Das ist natürlich was Anderes, wenn ein Alpha-1-Patient mit 40 seine Diagnose bekommt, weil er plötzlich Atemnot hat, und mit dem bekannten Fingerschnipp ändert sich alles. Er hat dann diese Phasen der Akzeptanz, des Bewältigens nicht, die ich alle hatte. Es gibt ja diese fünf psychologischen Schritte der Akzeptanz einer Erkrankung. Da bin ich halt schon lang durch und ich habe meine Krankheit akzeptiert. Deswegen ist es immer schwer, mich, der schon so lange mit dieser Geschichte lebt, mit jemanden zu vergleichen, der eine frisch gestellte Diagnose hat.

Meine Jungs wussten immer, dass ihr Papa schwer krank ist. Sobald Sie es verstanden haben, haben wir offen darüber geredet. Sie haben ja gemerkt, dass der Papa eben nicht überall mit hingehen kann, dass er nicht in den Klettergarten gehen kann. Papa hat Atemnot, hat öfter die Grippe oder einen Infekt. Aber sie haben das sehr gut angenommen. Wir haben sicherlich auch recht früh mit den Kindern über Themen wie Tod gesprochen, einfach um sie vorzubereiten. Und Sie wissen auch, was sie erben werden, wenn ich jetzt morgen übern Teich hüpfe. Ich versuche das immer mit einer positiven Ehrlichkeit zu machen, also das Thema Tod nicht irgendwie zu diabolisieren. Es ist ein Teil des Lebens, bei mir umso präsenter, und dann können sie auch besser und leichter damit umgehen.

Du hast im Vorgespräch gesagt: „Ich bin laut und direkt.“ Du beziehst in den sozialen Medien Stellung gegen rechts und die AfD, kämpfst für Liebe und einen guten Ton untereinander und prangerst Hetze an. Hat Dich Alpha-1 so mutig gemacht oder glaubst Du, dass das einfach Dein Charakter ist, der schon immer so war?

Ich kann das nicht spezifisch auf Alpha-1 beziehen. Ich glaube, viele Puzzlestücke in meinem Leben haben dazu beigetragen, dass ich der bin, der ich bin. Mich fragen ja auch immer Leute: „Wie gehst denn Du mit dieser Erkrankung um? Wie kannst du das?“

Ich hatte heute ein Gespräch mit meiner Chefin und sie sagte: „Ich traue mich gar nicht, wenn ich eine Grippe habe, zu sagen, wie schlecht ich mich fühle, weil ich weiß, wie schlecht es Dir geht.“ Ich sage dann immer: Das kannst du nicht vergleichen. Dein „schlecht“ ist Dein „schlecht“ und mein „schlecht“ ist mein „schlecht“. Ich kann aber damit anders umgehen. Ich wäre ja nicht der, der ich bin, wenn ich nicht das hätte, was ich habe.

Und das hat mich dazu gebracht, bestimmte Werte in meinem Leben zu priorisieren, für diese Werte einzustehen und dazu auch laut zu sein. Ich habe nichts zu verlieren. Ich bin mir dessen bewusst, ich habe nichts zu verlieren. Komischerweise – und das finde ich sehr spannend – trauen sich AfDler und Rechte nicht, mir irgendwie dumm zu kommen, obwohl ich sie sehr direkt angehe. Ich lese es ja immer von anderen LinkedIn-Mitgliedern, die dann Hass-Kommentare oder Hass-Postings bekommen, in denen sie diffamiert werden. Null – bei mir gar nicht.

Also erfährst Du mit dieser Direktheit viel Zustimmung – nach dem Motto: „Endlich sagt’s mal einer!“? Oder gehen manche Menschen auf Distanz zu Dir, weil sie mit dieser Direktheit und Offenheit schlecht umgehen können?

Also es hat mir noch nie einer gesagt: „Ich ent-followe mich jetzt mal von Dir oder löse unseren Kontakt auf, weil Du so bist, wie Du bist.“ Ganz im Gegenteil, viele Leute schreiben mir, zum Beispiel: „Ich bin ein heimlicher Mitleser deiner Postings. Danke, dass Du das machst.“ Also ich kriege sehr viel Zustimmung. Aber ich muss auch sagen: Alles, was ich mache, mache ich für mich. Ich mache das weder für Follower oder für einen Daumen nach oben. Ich prostituiere mich nicht für Likes, sondern ich stehe ein für meine Werte, und die sind ganz klar von meiner Erziehung geprägt. Ich bin Polizistensohn und habe ganz klare Werte von meinem Vater transportiert bekommen.

Und ich hasse Dummheit. Wenn Du „The Sixth Sense“ kennst: Der konnte tote Menschen sehen. Ich kann dumme Menschen sehen. Das ist meine Fähigkeit. Wenn jemand empathisch dumm ist, dann werde ich unangenehm. Da gibt es in LinkedIn doch einige, und die kriegen halt eine vors Knie getreten von mir.

Hast Du eigentlich vor irgendwas Angst, weil du wirkst komplett angstfrei?

Ich habe keine Angst, nein. Ich habe wirklich keine. Ich habe vorm Leben keine Angst und ich habe vorm Tod keine Angst. Es sagen zwar viele, dass sie vorm Sterben keine Angst haben. Das nenne ich Bullshit. Das glaube ich nicht. Nur Menschen, die eine Nahtoderfahrung hatten oder diese fünf Phasen der Akzeptanz. Jeder Krebskranke, jeder Mensch mit einer schlimmen Diagnose kann mich verstehen. Denn Du musst Dich damit auseinandersetzen. Und entweder machst Du Deinen Frieden damit oder Du kämpfst dagegen an, was Du nie gewinnen kannst. Deswegen habe ich mir gesagt: Es gibt nichts, vor was ich Angst habe. Da der Tod für mich jetzt kein Feind mehr ist, sondern ein Begleiter meines Lebens, habe ich auch vor ihm keine Angst. Und wenn mein Zähler runtergelaufen ist, dann ist er das. Ich kann nur alles dafür tun, dass es so angenehm wie möglich für meine Familie und meine Liebsten ist.

Und Du lebst im Hier und Jetzt?

Absolut! Meine Lebensphilosophie ist: Ich gebe jedem nächsten Moment die Chance, der schönste meines Lebens zu sein.

Super – tolle Einstellung!

Es ist eigentlich simpel, oder? Diese Phrasenschweine aus Omas Abreißkalendern von früher, diese Weisheiten haben komischerweise echt was für sich. Und wenn man ein bisschen danach lebt und das verinnerlicht, wie im nächsten Moment zu leben, macht es einem das Leben leichter. Und ich mache mir mein Leben leichter.

Ich achte auch darauf, dass ich mich zum Beispiel von toxischen Menschen trenne. Also Menschen, die mich runterziehen oder die mir Kraft entziehen, die lösche ich aus meinem Leben, konsequent. Ich kann mal ein Beispiel nennen: Ich habe jemanden getroffen und der fragt mich: „Hey Frank, wie geht’s dir?“ Und ich wollte gerade sagen: „Alles in Ordnung, gut.“ Aber er hat mich gar nicht aussprechen lassen. Der hat gleich von sich erzählt und mir seine Lebensgeschichte aufgepresst. Und dann habe ich gesagt, als er fertig war: „Pass auf: Das nächste Mal, wenn Du mich siehst, läufst Du bitte weiter.“ Schaut er mich verdutzt an und fragt: „Ja, warum?“ Da habe ich gesagt: „Wenn Du nicht mal meine Antwort abwarten willst auf Deine Frage, wie es mir geht, und Du mir gleich dein Leben aufdrückst, dann interessiere ich Dich nicht. Und Dein Mülleimer zu sein, dazu habe ich keine Lust, weil ich wahrlich eigene Themen habe.“ Sowas meine ich zum Beispiel.

Ja. Wie nimmst Du denn Deine Altersgenossen wahr? Erlebst Du Dich anders als ein Otto-Normal-Midlife-Mann oder hast Du da einen speziellen Blick drauf?

Ich würde nicht sagen einen speziellen Blick, aber ich bin eher verwundert, über was sich manche aufregen, mit was sich manche beschäftigen und ihre Lebenszeit verblasen. Ich sage dann, was hat Dich das jetzt weitergebracht?

Zum Beispiel mit was beschäftigen?

Ich nenne sie mal die Generation „höher, weiter, schneller“. Dieses sich gegenseitig zu vergleichen, sich messen zu müssen. Du kennst doch die Sparkassenwerbung von früher: „Mein Haus, mein Boot, mein…

… mein Pferd, meine Pferdepflegerin…

Genau, da gab’s jetzt wieder ein Revival der Werbung, weil das so ein Klassiker war in meiner Jugend. Und das ist diese Höher-weiter-schneller-Gesellschaft. Ich muss mich nicht messen, um meine eigene Wertigkeit zu haben. Ich weiß, was ich wert bin. Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß, was ich kann, aber auch, wo ich die Finger von lasse, wo ich sage: „Nö, das sollen mal schön die anderen machen.“ Ich glaube, das Zauberwort heißt hier für mich – oder was mir auch viele Leute sagen – dass ich sehr selbstreflektiert bin. Ich glaube, wenn man damit anfängt, hat man schon viele der eigenen Probleme von sich aus gelöst.

Ich habe mal durch einen Coach eine ganz wunderbare Mechanik kennengelernt. Er hat gesagt: „Nimm Dich mal aus Deinem Körper raus, geh in eine obere Ecke und schaue Dir zu, was Du redest. Würde Dir das gefallen, was Du da hörst, wenn Du derjenige wärst, der Dir gegenübersitzt?“ Ich habe gesagt: „Nö.“ Und dieses Training habe ich mir einfach beibehalten. Und dadurch bin ich sehr selbstreflektiert geworden. Und habe für mich gesagt, ich muss mich nicht über irgendetwas definieren oder das, über was ich mich definiere, hat sich geändert. Und das sind eben jetzt meine Werte und wie ich nach außen gehe. Meine Priorität liegt bei meinen Kindern, bei meiner Erziehung. Das sind jetzt wichtige Sachen. Und dass ich anderen Patienten helfe.

Genau. Du machst ja künftig auch einen Podcast, der „Mal ehrlich“ heißen soll. Erzähl mal kurz, was der beinhaltet.

„Mal ehrlich“ hat die Idee, dass jemand wie ich, der so direkt und kaltschnäuzig ist, andere Patienten oder Menschen, die im Bereich Gesundheitswesen unterwegs sind, zu ihrem Leben befragt. Auch zu Themen, die unangenehm sind, wie die Diabolisierung von Adipösen oder Sexualität in der Partnerschaft und all so Sachen, bei denen alle die Hand vor den Mund halten und sagen. „Was? Das kannst Du doch nicht sagen!“ Doch, ich kann.

Also Du thematisierst richtig peinliche Themen, worüber man nicht spricht…

…aber die jeden betreffen. Genau. Ich spreche das aus, mit dem viele Menschen Probleme haben oder vor dem viele Angst oder Sorge haben. Denn entweder zahlst Du einen teuren Psychiater dafür, oder Du bist alleine mit Deinem Problem. Gerade Menschen, die eine chronische oder seltene Erkrankung haben, haben die Herausforderung, dass sie unheimlich abhängig sind von Familie und Freunden. Und deswegen geht es darum, neben dem eigenen Thema – dem Kampf um die Erkrankung – die zwischenmenschlichen oder sozialen Probleme, die sie auch haben, zu benennen. Das sehe ich mit „Mal ehrlich“ als meine Aufgabe.

Da bin ich schon gespannt drauf. Ich werde auf jeden Fall Hörer sein… Letzte Frage: Was würdest Du Männern auf dem Weg mitgeben wollen, die am Beginn der Lebensmitte stehen?

Sich selber nicht so ernst nehmen. Das musste ich auch lernen: Ich bin ersetzbar, ich bin austauschbar. Ich habe das immer in den Firmen oder auch in anderen Gemeinschaften erlebt. Dann hieß es: „Wir bleiben in Kontakt. Du warst so ein toller Mensch. Du bist mir so wichtig.“ Arschkarte, nichts ist passiert. Die haben dann soziale Demenz und vergessen Dich. Und dann war alles, was sie gesagt haben, für den Eimer, für den Rundordner.

Und auch das gilt für mich: Auf meinem Grabstein wird nicht stehen: „Er hat bis zur letzten Sekunde gearbeitet.“ Das ist auch wichtig: Wir sind alle ersetzbar. Es bringt nichts, wenn Du sagst: Ich habe einen Titel mit fünf Wörtern auf meiner Visitenkarte. Du bist morgen aus der Firma raus, und dann haben sie Dich vergessen.

Kräht kein Hahn mehr danach.

Und Du hast Dir den Arsch abgearbeitet. Bist der Erste, der gekommen ist und der Letzte, der aus dem Büro gegangen ist. Es wird Dir nicht gedankt. Das meine ich mit Ersetzbarkeit oder sich selber nicht zu wichtig zu nehmen, dass die Welt sich nicht dreht, wenn ich nicht diesen Job mache.

Titelfoto von Marcelo Leal auf Unsplash

Frank Hennemann
#17
Todkrank und glücklich: Was man von einem Mann mit einer seltenen Erkrankung fürs Leben lernen kann.

Stell Dir vor, bei Dir wurde in jungen Jahren eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert und die Ärzte sagen, dass Du die Lebensmitte nie erreichen wirst. Wie würdest Du Dein Leben leben? Und was wäre, wenn Du – aller Prognosen zum Trotz – das mittlere Lebensalter doch erreichst? Genau das ist Frank Hennemann passiert. Er leidet seit seiner Geburt an einer seltenen Erbkrankheit. Ein Gespräch über rauchende Eltern im Auto, Hunde als Lebensretter und Einsichten aus Sparkassenwerbung.

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