Graut es Dir am Sonntagabend vor der kommenden Arbeitswoche? Hast Du das Gefühl, nur an Wochenenden und im Urlaub richtig zu leben? Andi Weiss hat es sich mit seiner Frau Martina zur Aufgabe gemacht, Menschen zu helfen, wieder neue Freude an der Arbeit zu finden, die ihnen gerade schwerfällt. Im Gespräch mit Joachim Zdzieblo stellt der Songpoet, Logotherapeut und Coach ihr neues Buch zu dem Thema vor. Ein inspirierender Austausch über Dauerlamentierer in der Arbeit, Wutausbrüche im Großraumbüro und Zufriedenheit mit zweitbesten Lösungen.
Andi, Du hast mit deiner Frau Martina ein neues, wie ich finde, wunderbares Buch geschrieben mit dem Titel „Nie wieder arbeiten! Impulse, die dir helfen, das zu lieben, was du tust“. Das Buch ist ja äußerlich – ein bisschen frech formuliert – wie eine Mischung aus Fotobuch und Poesiealbum, also mit vielen Grafiken, manchen Zitaten und kurzen Texten. Aber im Gegensatz zum Poesiealbum haben es die Texte in sich. Sie enthalten ganz viele Impulse und Fragen zur Reflexion, die man für sich beantworten kann. Ich mache das gerne schriftlich. Und das hat in meinen Augen schon fast eine therapeutische oder zumindest eine sehr gute Coaching-Wirkung.
Also das kann ich sofort unterschreiben. Da würde ich Dir nicht widersprechen. Danke schön.
Das ist tatsächlich auch die Art und Weise. Wir sind die letzten Jahre umgeswitcht von Bleiwüstenbüchern mit ganz viel Text, ganz vielen Buchstaben hin zu einem Buchformat, das vielleicht eher die Hirne der aktuellen Menschen anspricht, die Instagram und Co. gewohnt sind. Es eröffnet tatsächlich auch die Möglichkeit, nicht nur mit Worten Bilder zu malen, sondern manchmal auch mit einem schönen Bild oder mit einer großen Headline. Und da kann man als Leser irgendwo andocken und sagen: „Ah, da interessiert mich jetzt ein Thema, da steige ich ein.“
Genau, es ist ganz niederschwellig und man hat nicht das Gefühl, sich durch 300 Bleiwüstenseiten durcharbeiten zu müssen. Andi, einige Menschen haben den Sonntagsblues: Sie fürchten am Sonntagabend schon die kommende Arbeitswoche. Ihr stellt in Eurem Buch eine harte These auf, nämlich, dass die Furcht vor dem Montag eine Ursache für Burnout ist. Kannst Du das näher erklären?
Angst ist ja immer das Ergebnis einer Bewertung. Ich bin auch mit einem Vortrag „Wie gehe ich mit Angst um?“ unterwegs im Lande. Und bei dem Vortrag mache ich immer am Anfang ein Spielchen und sage: Wir stellen uns das jetzt nur vor – keine Angst. Wir machen das nicht in echt. Ich hole jetzt hier nicht fünf Freiwillige raus, stelle jetzt nicht fünf Stühle hin und lasse nicht die fünf Freiwilligen sich vorne auf die Stühle setzen. Wenn dem aber so wäre, könnten wir das uns mal vorstellen.
Also jetzt hätte ich da fünf, mehr oder weniger, Freiwillige. Sie setzen sich auf die fünf nicht vorhandenen Stühle, und ich würde rumgehen, stelle mich vor die fünf Leute, krame in meiner Hosentasche und schaue mal, was ich in meiner Hosentasche habe. Da habe ich einen Autoschlüssel drin, vielleicht ein Handy, einen Kalender, Kaugummis. Und dann habe ich – oh hoppla – auch eine Vogelspinne drin. Man merkt, das ist ein völlig absurdes imaginäres Spiel, völlig jenseits der Realität, aber wir spielen es ja nur.
Jetzt nehme ich die Vogelspinne, gehe zu diesen fünf Leuten und zeige ihnen die Vogelspinne. Fünf Leute, eine Bedrohung. Eine Bedrohung, fünf verschiedene Reaktionen, von „Ui, wie süß! Darf ich mal streicheln?“ bis hin zu schreiend aus dem Saal rauslaufen. Das heißt: Unsere Angst ist das Ergebnis einer Bewertung.
Früher haben wir das gewusst, wenn wir den Säbelzahntiger gesehen haben: Oh, da muss ich jetzt überlegen… Was ist besser: Angreifen oder abhauen? Und wenn ich gemerkt habe, dass ich schwächer bin, dass das Angreifen nicht funktioniert, dann war es nötig, im Bruchteil einer Sekunde schnell zu entscheiden und meinem Gehirn zu vertrauen und zu sagen: Säbelzahntiger – Angriff? Keine gute Idee. Also, nimm die Beinchen in die Hand und hau ab.
Also Angst ist das Ergebnis einer Bewertung, Und ich glaube, immer dann, wenn die Schönheit des Sonntags – der Sonntag und das Wochenende sind uns ja geschenkt, um durchzuschnaufen, um auszuruhen, um Kraft zu tanken – wenn die Schönheit dieses Moments nicht sein darf, weil die Sorge über den nächsten Tag, den Montag, größer ist, die Angst davor, einem Mitarbeiter, einer Kollegin, einem Chef/einer Chefin zu begegnen, die die einem irgendwie die Lust am Leben, am Arbeiten nimmt, dann ist das ein Zeichen, dass die Schönheit des Sonntags kleiner ist in der Gestaltung als die Angst, die ich vor dem Montag habe.
Aber das kann dann wirklich dazu führen, dass ich irgendwann gar nicht mehr die Kraft habe aufzustehen und in den Job zu gehen.
Unser Gehirn ist ja so angelegt, dass es manchmal Registergarten ziehen muss. Also wir machen uns nicht jedes Mal neue Gedanken über das Leben und allem, was uns begegnet. Ich erinnere mich noch, als unser Söhnchen ganz frisch dieses Licht der Welt erblickt hat, war er in der großen Situation, zum ersten Mal eine Banane in der Hand zu halten. Das war schöner als jedes Fernsehprogramm. Der hat stundenlang diese Banane begutachtet, hat sie mit den Händen angefasst und angeguckt. Und nach der stundenlangen Betrachtung hat er irgendwann mal in eine Ecke reingebissen und natürlich das Gesicht verzogen. Er hat gemerkt, mit Schale schmeckt es auf jeden Fall nicht so gut. Was da hirnphysiologisch an Informationen neu gebahnt wurde.
So, jetzt geht er in die dritte Klasse. Hätte er nicht ein Hirn, das ihm die Möglichkeit gibt, im Augenwinkel auf dem Sideboard etwas Gelbes, Krummes liegen zu sehen und ihm zu signalisieren: „Alles gut, geh weiter. Ist eine Banane. Kannst Du später essen.“ Oder: „Schmeckt Dir eh nicht“, dann würde er jeden Morgen neu dastehen und sagen: „Was ist denn das gelbe, krumme Ding da?“ Da muss ich mir jetzt mal stundenlang Gedanken machen, das anfassen, mal reinbeißen und, und, und. Wenn er nicht die Möglichkeit hätte, ein Gehirn zu haben, das auf diese Registerkarte zugreift, dann hätte er die erste Klasse nicht geschafft, weil er gar nicht den Weg in die Schule gefunden hätte, weil er morgens stundenlang erstmal die Banane betrachtet hätte. Lange Rede, kurzer Sinn: Unser Gehirn muss auf Registerkarten zurückgreifen. Das ist unser Glück in guten Sachen, das ist unser Nachteil in negativen Sachen, weil wir natürlich auf Momente zurückgreifen, die uns vielleicht mal nicht gelungen sind, die uns missglückt sind, die uns Angst gemacht haben, in denen wir uns kleiner gefühlt haben. Und selbst, wenn wir als erwachsene Menschen den sachlichen Abgleich haben und sagen können „Okay, jetzt versachliche ich das mal: Wie ist es denn? Bin ich wirklich so schwach oder bin ich wirklich so schlecht oder schaffe ich das wirklich nicht?“, bleibt am Ende des Tages die Emotion.
Und das gelingt uns natürlich in diesem Registerkartenzugreifen nicht so leicht, zu sagen „Ich separiere mal die sachliche Information von der Emotion, die da ist.“ Eine Emotion, die meistens nichts mit der Gegenwart zu tun hat, die meistens eine biografische Geschichte ist. Und deshalb wirken die Dinge, die am Montag auf uns zukommen, meistens viel, viel größer, weil wir nicht nur einen sachlichen Abgleich haben, sondern eben einen großen Schwung an Emotionen mit im Boot haben.
Du kennst sicher auch Menschen, die sich regelmäßig über ihre Arbeit beklagen, obwohl sie einen festen Job haben, ordentlich verdienen, auch ausreichend Freizeit haben. Manchmal könnte man verleitet sein, solchen Leuten zuzurufen: „Hör auf zu jammern!“ Aber das ist für Dich kein guter Appell. Was empfiehlst Du stattdessen?
Zu jammern! (lacht) Ernsthaft. Ich habe das oft, dass Leute – Privatpersonen oder auch in Firmen – im ersten Gespräch ihre Situation erzählen. Und das sind oft ernstzunehmende Schwierigkeiten, ernstzunehmende Krisen, ernstzunehmende Situationen, wo ich jetzt nicht einfach sagen will: Jetzt komm, zieh einen Postkartenkalenderspruch wie „Wende Dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter Dich“ oder irgendeinen billigen Tipp gebe. Das wäre ja fatal. Warum? Weil die Menschen ihre Geschichte erzählen, und ich nehme das ernst. Und ich finde, es ist auch was Ernstzunehmendes. Die Menschen beenden oft selbst Ihre Geschichte mit dem abrundenden Sätzchen „Ja, ja, ich weiß: Ich jammere auf hohem Niveau. Anderen geht’s ja viel schlechter. Andere haben ja gar keine Arbeit“ oder „Andere haben nichts zu essen“ oder „Andere sind schwer krank“. Da kommt der Abgleich mit anderen. Aber sich freudig und gerne in den Montag zu stürzen, da geht’s ja nicht um andere, da geht’s um mich. Und da geht’s um die Frage, „Was ist denn meine ganz persönliche Herausforderung, die ich zu geben habe in dieser Welt?“
Martina und ich sammeln immer so ein bis eineinhalb Jahre Inhalte für ein neues Buch. Und irgendwann hatten wir die zweiköpfige Abschlusskonferenz, in der es darum ging, den Sack zuzubinden. Wir haben immer so 300, 400 Prozent, die wir dann eindampfen müssen auf die Seitenzahl, die uns zur Verfügung steht. Wir saßen also bei unserer letzten Abschlusskonferenz zusammen und haben gesagt: „So, was kommt jetzt rein?“ Und wir haben beide gleichzeitig festgestellt: Witzig… wir machen hier ein Buch über Arbeit, und in den meisten Beiträgen, für die wir uns final entschieden haben, geht es gar nicht um die Frage „Was arbeite ich, was mache ich, was tue ich in dieser Welt?“, sondern um die Frage „Wer bin ich in dieser Welt?“ Und dann sind wir wieder bei der Frage, warum mir der Montag oft so eine große Angst macht. Weil ich gar kein Gespür habe, wer ich bin. Und immer, wenn ich kein Gespür habe, wer ich bin, was ich kann, was ich zu geben habe, aber auch was ich nicht geben kann, was ich vielleicht auch gar nicht geben muss in dieser Welt, dann kommt eine Schieflage in meine Beurteilung rein. Und dann läuft die Bewertung auch falsch, sprich, dass ich mich für zu klein halte und den Montag für viel zu groß.
Das heißt doch auch, dass das vor allem Leute tun, die keinen guten Zugang zu ihren eigenen Gefühlen haben. Die es erstmal klargezogen bekommen müssen „Wie geht's mir gerade, wer bin ich? Passt das jetzt zu mir? Oder ist das einfach ein Gefühl, das halt da ist, aber das ich ignorieren kann, weil es mir grundsätzlich gut geht?“ Also für mich klingt das nach einem nicht so guten Zugang zur eigenen Gefühlswelt.
Absolut! Und es geht auch um die Frage der Stimmigkeit. Also „Darf ich sein, mit allem, was zu mir gehört, auch mit meinen Gefühlen? Und was ist denn, wenn meine Gefühle nicht so produktiv sind oder scheinbar nicht so produktiv sind?“
Ich liebe dieses Beispiel der Top 3 der dummen Elternantworten. Wenn ein Kind sagt „Ich habe Angst“ ist in den Top 3 auf jeden Fall der Satz dabei: „Du brauchst keine Angst haben.“ Das Kind hat aber Angst. Jetzt sagt sich das Kind: „Na ja, ich bin das Kind und da ist der Erwachsene. Der ist schon ein paar Tage länger auf dieser Erde. Das ist derjenige, der schon im Leben steht, also ist der der Fachmensch. Also wenn ich Angst habe, und der sagt, ich brauche keine Angst haben, dann stimmt ja was mit mir nicht. Weil, wenn ich es nicht bräuchte und es trotzdem habe, dann stimmt was mit mir nicht.“
Ich glaube, wir kommen dann in die Schieflage der Beurteilung, dass wir glauben, mit uns stimmt etwas nicht, wenn Emotionen kommen Und ich glaube, weil dem so ist, werden wir dann auch schnell unvorbereitet von unseren Emotionen gesteuert und angetrieben und erleben dementsprechend Emotionen als negativ. Eine Wut – oh! Eine Trauer, eine Angst – oh! Wer freut sich denn, dass diese Emotionen bei einem vorbeischauen? Am Ende des Tages sind aber alle Emotionen unsere Helfer.
Eine Wut ist dazu da, um mich auf eine gesunde Art und Weise abgrenzen zu dürfen. Nur wenn ich sie lange verstecke, wenn ich sie so lange unter den Teppich kehre, dass sie ja nicht rauskommt, weil ich ja keine Wut zeigen darf, dann wird sie irgendwann so groß, dass sie unkonstruktiv ist. Dann gibt es den Wutausbruch im Gespräch mit dem Chef, dann fliegen da Worte oder vielleicht auch nicht nur Worte durch das Großraumbüro. Und ich stehe da und merke wieder „Ich bin der Gestaltete. Ich bin der, der jetzt blöd dasteht, weil ich mich inklusive meiner Emotionen nicht im Griff habe“. Dabei, wie gesagt, sind das alles unsere Helferinnen.
Deswegen sagst Du auch nicht: „Hör auf zu jammern“, sondern „Jammere ruhig. Lass das ruhig raus. Das darf sein. Du darfst dieses Gefühl haben. Das sagt dir auch was. Das hilft dir auch."
Ja, ich glaube, das ist auch das Kind in uns. Wenn ich einem Kind verbiete, sich emotional einzubringen, dann wird es so lange weitermachen, bis es die Chance hatte, das, was es zu präsentieren und mitzuteilen hat, in irgendeiner Art und Weise einzubringen. Dann vielleicht sogar auf eine nicht-konstruktive Art und Weise. Und ich glaube, ein Mensch, der wirklich mal jammern durfte, der darf rauskommen aus diesem Um-sich-selbst-Kreisen, Sich-selbst-Bemitleiden, Sich-selbst-Bejammern.
Ich habe das immer geliebt: Als Emil angefangen hat zu laufen, haben wir im Garten Fußball gespielt. Wenn ich dann ein bisschen zu fest geschossen hatte, und er ist umgekippt, und ich dann hingelaufen bin und gesagt habe „Emil, tut mir leid. War das zu fest? Hast Du Dich verletzt? Ist was Schlimmes passiert?“, dann war er derjenige, der aufgestanden ist und gesagt hat „Papa, alles gut. Komm, lass uns weiterspielen.“ Wenn ich das nicht gemacht habe, wenn ich gesagt habe „War nicht so schlimm. Komm, steh auf. Mach weiter“, dann ist er zum italienischen Fußballspieler mutiert, lag am Boden und hat Gelb, Rot und alles eingefordert. (lacht)
Er will gesehen werden in seinem Gefühl, selbst wenn es gar nicht so groß ist. Ich verstehe. Diejenigen, die den Sonntagsblues haben, leiden ja manchmal auch unter dieser Aufschieberitis, also Prokrastination, wie der Fachbegriff heißt. Sie schieben unangenehme Aufgaben auf, bis es nicht mehr geht. Diese Aufschieberei hat aber auch eine ehrenwerte Ursache oder kann sie haben, nämlich Perfektionismus. Wie hängt das zusammen?
Da müssen wir gleich mal einhaken: Unser Anspruch, etwas richtig und gut zu machen, ist eigentlich unser Anspruch, einen Beweis dafür zu haben, dass wir richtig und gut sind. Und das zeigt ja schon, was das für ein großer Kampf ist, in dem wir uns in diesem Leben befinden, beruflich wie privat. Wir wollen es richtigmachen. Wir wollen richtig sein. Wir wollen dementsprechend sein dürfen, auch unsere Daseinsberechtigung damit erklären können.
Und dann wird’s spannend. Jetzt mache ich mir vielleicht Gedanken, wie ich diese Aufgabe erfüllen kann und ich merke, es könnte Menschen geben, die sagen „Das ist nicht gut“. Klammer auf, Klammer zu – weitergedacht – „Du bist nicht gut“. So, jetzt will ich es noch besser machen, unternehme den nächsten Anlauf. „Nee, das wird vielleicht auch nicht reichen. Vielleicht werde ich auch nicht reichen.“ Dementsprechend schiebe ich das auf. Und dann sind wir wieder bei der Angst der Bewertung. Also ich bewerte mich kleiner, als ich bin.
In das Buch haben wir den schönen Gedanken eingebracht, sich mit der zweitbesten Lösung zufrieden zu geben. Weil erst die zweitbeste Lösung oft der Moment ist, etwas umzusetzen. Neulich hat mir meine Frau gesagt: „Du hast mir im Leben gezeigt, dass man sich mit zweitbesten Lösungen zufriedengeben kann. Ich glaube, sonst hätten wir nie ein Buch gemacht oder sonst hätte ich nie einen Song veröffentlicht.“
Ich habe einen Freund, der Musiker ist. Ich würde sagen, er ist Musiker und ich bin Künstler. Der ist wirklich ein großartiger Musiker. Da schäme ich mich immer für jedes Lied, das ich veröffentliche. Das sage ich nicht aus falscher Demut, sondern aus Bewunderung: Der hat’s einfach drauf. Aber der hat, glaube ich, fast noch kein Lied veröffentlicht in seinem Leben, weil er auf dem Weg dorthin sagt „Da müsste noch das passieren.“ Und dann bleibt es in der Schublade stecken. Und ich sage mir immer: Lieber raus als gar nicht! Lieber mitteilen, als in der Schublade zu verstecken.
Absolut! Das heißt: Er stirbt eigentlich in Schönheit. Denn wenn ich immer nur das Perfekte haben will, dann geht nichts vorwärts. Das klingt auch ganz stark nach Leistungsgesellschaft. Ich definiere mich darüber, was ich leisten kann. Und das muss möglichst das Beste sein. Ist auch ein bisschen traurig. Also ich definiere mich nicht darüber, wer ich bin.
Ja und dann kommt meistens, glaube ich, auch Understatement dazu, also eine falsche Demut. Einer der wichtigsten Sätze, die mir in meinem Leben begegnet sind, war der Satz: „Ungelebtes Leben macht krank.“ Wie viel steckt eigentlich in uns, bleibt da verborgen und kann nicht raus? Warum? Weil wir glauben, es muss die beste Lösung sein. Und weil es eben nicht die beste Lösung ist, bleibt es in der Schublade, bleibt es verborgen. Weil wir Sorge haben, dass uns andere beurteilen, aburteilen, abwerten. Und dabei machen wir nichts.
Das „Nie wieder arbeiten“-Buch ist das Buch Nummer 26. Ich habe tatsächlich gelernt, mit der Begrenzung zu leben, gerade bei Impulsbüchern. Wie gesagt, wir haben 400 oder 300 Prozent Inhalt, bevor wir alles eindampfen und sagen „So, jetzt müssen wir uns auf die Seitenzahl beschränken“. Und das ist so schwer. Das tut fast schon körperlich weh, wenn wir uns für den einen Impuls entscheiden, was dann ja heißt, den anderen Impuls nicht zu nehmen. Irgendwann ist das dann wie bei der Platzverteilung an der Hochzeit, wenn die Namensschilder verteilt werden. Dann findet eine Hochzeit fast nicht statt, weil sich die Leute nicht einigen konnten, wer wo sitzt. So ist es ja manchmal. Da werden sich nächtelang Gedanken gemacht: Ja, können wir den Onkel Martin neben die Tante Clara setzen oder streiten die dann oder ist er dann beleidigt, wenn er nicht nah genug an der Braut sitzt.
So ist es ja oft so. Da findet Leben nicht statt, weil wir uns in Sorgen und Zweifeln verhackstücken. Und deshalb liebe ich diesen Gedanken der zweitbesten Lösung, die zu leben, bevor man das Leben gar nicht lebt.
Das ist ein sehr guter Tipp. Übrigens, weil Du vorher die Musik erwähnt hast: Ich höre gern einen Podcast, der heißt „Die größten Hits und ihre Geschichte“. Da geht es um die Geschichte von Pop und Rock Hits. Ganz oft, also fast in jeder Folge, heißt es: „Wir waren total überrascht von dem Erfolg, weil der Song nur so dahin geschrieben war und kurz mal eingespielt wurde.“ Das passt ganz gut dazu. Die zweitbeste Lösung ist dann im Nachhinein manchmal die beste... Gehen wir mal davon aus, dass jetzt ein Mann zuhört, der aus welchen Gründen auch immer seinen Job nicht wechseln kann und in ihm aber unglücklich ist. Vielleicht braucht er Sicherheit, weil seine Kinder in der Ausbildung sind und er sie finanzieren muss. Vielleicht hat er noch ein Haus oder eine Wohnung abzubezahlen oder will in der Nähe seiner pflegebedürftigen Eltern sein und den Ort nicht verlassen. Was würdest du ihm raten?
Na ja, eigentlich hat er ja schon einen Grund, in dieser Arbeit zu bleiben. Er marschiert in die Arbeit und sagt: „Warum mache ich das? Ich habe ja Kinder“ oder „Ich habe ein Haus“. Nietzsche sagte: Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.
Jetzt ist die Frage: Ist dieses Warum groß genug? Es ist ja trotzdem die große Sorge oder die große Gefahr da, dass es irgendwann zur Selbstverletzung wird. Aber es ist okay zu sagen: Nicht jeder Tag ist vergnügungssteuerpflichtig in meinem Arbeitsleben. Manchmal habe ich den Grund aufzustehen und ich weiß, ich kriege Geld, und wenn ich das jetzt hier mache, dann kann ich mit meiner Familie schön in den Urlaub fahren. Oder ich freue mich, dass ich meine Kinder, die studieren, unterstützen kann. weil ich hier gerade etwas mache, was mir vielleicht in dem Moment nicht zu 100 Prozent Spaß macht, aber im wahrsten Sinne des Wortes ein gar nicht so falsches Mittel zum Zweck ist.
Das ist, glaube ich, die erste Geschichte, die ich für mich sehen muss: Gibt es ein Warum? Viktor Frankel hat diesen Satz von Nietzsche ergänzt. Er sagte: „Wer seinen Sinn im Leben gefunden hat, der wird daran nicht nur glücklich, er wird auch leidensfähig.“ Und ich glaube, oft gelingt es uns nicht, Dinge zu machen, weil wir keinen wirklichen Sinn dahinter sehen.
Ich bin manchmal vor Corona richtig k.o. und gesundheitlich angeschlagen auf Tour gegangen. Ich habe mich erst neulich mit einem Künstlerkollegen unterhalten und gesagt: „Wissen Angestellte eigentlich, was man als Selbstständiger so macht?“ Ich bin richtig hart auf Tour gegangen, weil ich wusste und mir immer imaginiert habe, wie das sein wird. Nicht die eher qualvolle Zeit, viele hundert Kilometer mit dem Auto zu fahren, alles aufzubauen, einzuräumen, auszuräumen, umzuräumen und und und. Sondern ich habe mir dann vorgestellt, wie es sein wird, wenn ich vor den Leuten sitze und meine Geschichten erzähle. Wie wird es sein? Und inzwischen, ich mache das jetzt bald 20 Jahre, weiß ich, was nach den Konzerten an Rückmeldungen kommt, wenn da jemand kommt und erzählt: „Ich bin schwer depressiv, Ihre Musik hat mich durch dieses dunkle Tal getragen“ oder „Ich habe eine lange Krankheitsphase gehabt und Ihre Musik hat mir geholfen, mit erhobenem Kopf durchs Leben zu gehen“. Das habe ich mir imaginiert.
Ich war deswegen nicht plötzlich wieder gesund. Deswegen war nicht die Fahrt kürzer oder die Erkältung weg. Nein. Aber ich hatte ein Hinzu, ich hatte eine Leidenschaft und die Kraft der Imagination zu sagen, für was ich das hier mache. Ich stelle mir das in meinem Kopf wirklich bildhaft vor, dieses Warum, für das ich jetzt gerade fahre, lebe, aufbaue, umbaue, einräume, ausräume. Das ist nicht etwas ganz Kleines, sondern ganz Schönes und Großes. Das ist eine Einstellungsmodulation.
Und das heißt in dem konkreten Fall: Dieser Mann könnte sich vorstellen, wie er seine Kinder unterstützen kann im Studium, wie er für seine Eltern da sein kann, und daraus diesen Sinn zieht und sagt: Dafür nehme ich auch mal diesen Sonntagsblues in Kauf oder dass ich schwer in die Arbeitswoche finde. Das wäre eine gute Strategie?
Das wäre eine Einstellungsmodulation.
Wenn ich über einen längeren Zeitraum in einer Firma bin, dann lernst Du die Leute kennen. Und da saß ich mal einem Menschen gegenüber, mit dem hatte ich schon viele Gespräche hinter mir, und wir kannten uns gut. Deswegen habe ich mich auch getraut, frech zu sein, weil wir ein gutes Verhältnis hatten. Der war ein toller Mitarbeiter, der war kompetent, der hat’s gut gemacht. Sein Chef und seine Kollegen und Kolleginnen haben alle sehr gut über ihn gesprochen. Und trotzdem war er immer so ein Dauerlamentierer. Ihm ist immer noch etwas eingefallen, warum das so und so ist. Die um ihn rum waren, haben immer gesagt: „Jetzt hör doch mal auf! Du machst das doch toll.“
Er saß mir mal wieder gegenüber, morgens in einem Gespräch, und hat wieder sehr lamentiert. Da habe ich gesagt: Zeigen Sie mal Ihre Handgelenke! „Wieso meine Handgelenke?“, hat er gefragt. Da habe ich gesagt: Komisch, man sieht gar keine Abdrücke mehr. Sagt er: „Ja, was für Abdrücke?“ Von den Handschellen, sage ich. „Von welchen Handschellen?“ Da habe ich gesagt: Na ja, die Polizei hat Sie doch heute Morgen hierhergebracht. Und da schaut er mich an und antwortet: „Quatsch. Ich bin hier freiwillig hergekommen.“ Habe ich gesagt: „Na dann…“
Ich glaube, uns ist oft unsere Freiheit nicht bewusst. Dass wir in Freiheit dorthin gekommen sind. Da hat uns keine Polizei hingebracht, niemand hat uns dort hingeprügelt. Das ist mir so wichtig. Das gilt ja für viele Bereiche. Das gilt fürs Arbeitsleben, das gilt aber auch für Beziehungen. Mich hat nicht die Polizei an den Traualtar gezogen, sondern ich entscheide mich jeden Tag neu dafür, ob ich in dieser Beziehung bleiben will. Es ist meine Freiheit, in dieser Beziehung zu sein, und ich hätte aber auch die gleiche Freiheit, nicht in dieser Beziehung zu sein. Und wenn ein Mensch diese Freiheit entdeckt, dann ist das eine völlig andere Dynamik, mit der man in die Arbeit oder auch in die Beziehung reingehen kann.
Da passt ganz gut das nächste Thema dazu. Man findet ja auf Social Media viele Beiträge zur sogenannten Work-Life-Balance. Kann es sein, dass dieser Begriff grundfalsch ist, weil er in sich schon die Arbeit als etwas Schlechtes definiert?
Es gibt nichts Schlimmeres als diesen Begriff! Sind wir doch mal ehrlich. Also ich fahre viel Auto. Montagmittag kommt aus den Radiostationen schon die Info: „Meine lieben Damen und Herren, es ist 12:34 Uhr. Den ersten halben Tag der Woche haben wir schon geschafft. Haltet gut durch! Bald ist es wieder Freitag. Bald ist es wieder Wochenende!“
Was wird damit suggeriert? Das heißt doch: „Mach fünf Siebtel Deines Lebens die Augen zu! Schau, dass Du Dich irgendwie durch die Woche bringst und dann kannst du wieder leben.“ Wir beklauen uns mit so einer Einstellung um fünf Siebtel unseres Lebens und das kann doch nicht sein.
Das ist eine ganze Menge.
Deswegen glaube ich, müssen wir wiederentdecken, dass Work auch Life und Life auch Work ist, Und dann darf das auch schön sein. Ich halte mich für einen Menschen, der sehr glücklich ist, das zu tun, was er beruflich tut. Ich habe – Gott sei Dank – einen schönen bunten Blumenstrauß. Deswegen wird’s mir nicht langweilig. Und jede einzelne dieser Blume, die ich beruflich mache, die braucht jeweils die andere Blume, um sich jeweils gegenseitig zu beglücken und inhaltlich zu befeuern. Also ich liebe diesen Blumenstrauß. Und trotzdem, obwohl ich wirklich sagen kann, ich habe Glück mit der Vielfalt dessen, was ich tue, muss ich auch sagen, gibt es Tage, da ist es Arbeit, und es gibt Tage, da ist es Glück. Manchmal gibt es Konzerte, da schreibt meine Mitarbeiterin „Gage“ drauf, und manchmal gibt es Konzerte, da würde ich ihr sagen: „Schreib mal Schmerzensgeld drauf.“
Aber trotzdem: Alles in allem darf man das Leben nennen und darf Leben Arbeit sein und Arbeit Leben sein.
Das sehe ich auch so. Kommen wir mal zu einem weiteren Modebegriff unserer Zeit, der heißt Resilienz, was man verkürzt als seelische Widerstandskraft bezeichnen kann. Du gehst in Deinem Buch auf einen weiteren nicht ganz so ausgelutschten Begriff ein, nämlich Ambiguitätstoleranz. Was verstehst Du darunter und kann man diese Fähigkeit erlernen?
Ich hole in diesen zweiten neuen Begriff noch einen dritten neuen Begriff mit rein, den wir in dem Buch haben, weil das große Themen sind, die wir, obwohl es schwer auszusprechende Wörter sind, nicht nur aussprechen lernen müssen, sondern leben lernen dürfen. Fangen wir mal an: Die Resilienzforschung macht sich darüber Gedanken, wie es dem einen gelingt, eine Krise zu erleben und an dieser Krise nicht zu zerbrechen. Und der nächste erlebt das gleiche Maß an Krise und er zerbricht daran. Was ist das, was Menschen widerstandsfähig macht, so etwas zu überstehen?
Die Ambiguitätstoleranz lädt uns dazu ein, dass es verschiedene Orte mit verschiedenen Gewichtungen und Wertigkeiten gibt, die scheinbar widersprüchlich sind, aber trotzdem nebeneinanderstehen dürfen. Ich gehe mal drei Schritte weg von der Arbeit und lande mitten in unserer gesellschaftlichen Situation gerade. Es gibt den wunderbaren Satz, den ein schlauer Mensch mal gesagt hat: „Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort und da treffen wir uns.“ Selten gab es Zeiten in den letzten Jahrzehnten, in denen wir diesen Spruch nochmal neu definieren müssen. Also die Schönheit, sich an einem Tisch treffen zu dürfen und trotzdem nicht einer Meinung sein zu müssen. Das müssen wir gerade gesellschaftlich sehr lernen.
Siehe Corona. Das war auch in dieser Zeit wichtig.
Ganz großes Thema. Da haben wir uns nur noch Standpunkte um die Ohren gehauen. Wir haben nur noch diskutiert, wer richtigliegt und wer nicht. Anstatt dass wir angefangen haben, uns unsere Geschichte zu erzählen. Und ich glaube, die Ambiguitätstoleranz brauchen wir, um zu sagen: „Das, was ich mache, ist richtig. Das, was der andere macht, ist auch richtig.“ Und auch wenn es eine Megadialektik ist und das gar nicht zusammenpasst, ist es trotzdem stimmig, und wir können trotzdem nebeneinander koexistieren und Leben und Arbeit gestalten.
Und hier braucht es noch den dritten Begriff, den wir ins Buch gebracht haben. Das ist der Begriff Anti-Fragilität. Deswegen ziehe ich jetzt die Spanne von der Resilienz über die Ambiguitätstoleranz hin zur Anti-Fragilität. Die Resilienz beantwortet die Frage: Wie gelingt es, eine Krise zu überstehen und daran nicht kaputt zu gehen Der Begriff Anti-Fragilität geht der Frage nach, was es bedeutet, nicht nur eine Krise zu überstehen, sondern in dieser Krise zu wachsen und zu reifen. Und das gelingt, wenn ich eine Ambiguität in mir trage. Wenn ich fähig bin, meinen Lebensansatz, den ich sehr gut finde, mit einem anderen Menschen abzugleichen.
Ich bin gerade mit einem Menschen sehr intensiv im Gespräch. Wir basteln an einem Projekt für eine gemeinsame Keynote für Firmen. Wir haben uns erst vor ein paar Tagen unterhalten. Da habe ich gesagt: Es ist so interessant. Ich mache das jetzt seit vielen Jahren und habe das gebraucht, erstmal inhaltlich nicht mit anderen Partnern auf die Bühne zu gehen – exklusive meiner Frau, die ist ja nicht eine andere, die ist ja meine Frau. (lacht). Denn ich habe sehr viele Jahre gebraucht, mein eigenes Lied zu finden und zu wissen, welches Lied ich denn singe. Was ist denn meine Lebensmelodie? Was habe ich zu geben und zu singen in dieser Welt? Konstantin Wecker singt: Ich singe, weil ich ein Lied habe. Oft glauben wir, wir müssten sagen: Ich singe, weil ich Geld verdienen muss. Da sind wir wieder ganz am Anfang. Es geht nicht darum, was ich arbeite, sondern es geht um die Frage, wer ich bin.
Und wenn ich dann lerne, in der Ambiguitätstoleranz zu entdecken, dass ich einen Ansatz habe, der wertig und wichtig ist, und da drüben jemand anderes sehe und ich gemeinsam mit ihm an den Tisch komme, dann kommt es zu einer herrlichen Befruchtung, um Dinge neu entstehen und reifen zu lassen in dieser Welt. Und plötzlich kommt da eine ganz andere Form der Lebens- und Arbeitsgestaltung rein.
Das hört sich für mich so an, dass manche Diskussionen auf Social Media anders verlaufen würden, wenn wir diese Dinge wie Ambiguitätstoleranz übten. Also zu akzeptieren, dass es auch eine andere Wahrheit gibt. Und meine Wahrheit trotzdem für mich passt und richtig ist und die andere kann ich stehen lassen, und wir können die Gemeinsamkeiten betonen. Das ist ein schöner Ansatz... Andi, es kann ja noch mehr Gründe geben, warum man am Sonntagabend mit Blick auf die Arbeitswoche Bauchschmerzen bekommt. Ein Grund können Kolleginnen oder Kollegen sein oder Führungskräfte, die meine Grenzen überschreiten. Was hilft denn gegen die?
Ich lande nicht erst bei dem Konflikt, ich gehe wieder einen Schritt zurück und frage: Wer bin ich? Und dann sind wir wieder bei den Emotionen, denn die Wut, die brauchen wir. Ich habe vorher gesagt: Ganz komisch, die Helferinnen, die wir da geschenkt bekommen haben wie die Wut, die Angst, die Trauer… Wer will denn sowas haben? Die will doch keiner haben. Und deshalb verstecken wir uns vor denen.
Also ich gehe nicht auf eine Wut zu. Warum? Weil ich Angst davor habe, wenn ich jetzt dieser Wut begegne, meiner biografischen Wut, dann ist sie so groß, dann überrollt die mich, dann überrollt die andere, dann macht die alles platt und kaputt. Wir betrachten mal die Wut wie ein großes Regenfass. Wenn ich versuche, das zu leeren, kann ich das nur machen, indem ich es umkippe. Dann kippele ich da dran und irgendwann ist der Winkel erreicht, das Fass kippt um und spült mich weg
In der Trauerarbeit gibt es den schönen Begriff des Abtrauerns. Ich nehme den Menschen, der so Angst hat, sich dieser Trauer zu stellen, weil er gerade einen wichtigen Menschen verloren hat. Der Gedanke des Abtrauerns ist, ein zahnputzbecher-großes Gefäß zu nehmen, zum Fass zu gehen und mal eine zahnputzbecher-große Menge abzulassen, und der eigenen Trauer zu begegnen. Und in dem Abtrauern stelle ich fest, dass mich die Trauer nicht umbringt. Ganz im Gegenteil: Die Trauer, die erinnert mich an etwas Schönes, was ich mit diesem Menschen erlebt habe, eine Verbindung, die ich mit dem Menschen hatte. Diesen Schmerz spüre ich, und dieser Schmerz ist ja eigentlich etwas Schönes. Wenn ein Chef, der mich 30 Jahre lang getriezt, geärgert und vor allen runtergemacht hat, mal abdankt und von der Bühne dieser Welt abtritt, vermute ich, wird die Trauerphase relativ knapp bemessen sein. Bei einem Menschen, mit dem ich schöne Sachen erlebt habe, wo wir uns gemeinsam bereichert und Leben geschenkt und ermöglicht haben, vielleicht gemeinsame Kinder haben, ist das ja furchtbar, weil plötzlich etwas wegbricht.
Jetzt wechseln wir mal wieder zur Wut. Bei der Wut ist es das Gleiche. Ich nähere mich der Wut nicht. Warum? Weil ich Angst habe, dass die so brachial ist und ich vielleicht etwas mache oder sage, was mich meinen Job verlieren oder die Polizei kommen lässt. Oder dass ich meine Beziehung verliere. Wenn ich jetzt mal rankomme und frage „Was ist denn das für eine Wut und für was ist die Wut eigentlich da?“, dann ist die Wut meine Helferin, meine Freundin, die sagt: Pass mal auf. Du hast ein Lebenshaus. Und rund um Dein Lebenshaus hast Du einen schönen Garten. Und rund um diesen Garten ist ein Gartenzaun. Und der Gartenzaun ist ganz wichtig, weil jedes Individuum in dieser Welt geschützt werden muss und geschützt werden darf. Das ist Deine berechtigte Begrenzung. Da darf keiner ungefragt drübersteigen.
Das heißt doch für mich, wenn ich jetzt zum Beispiel einen Chef oder einen Kollegen habe, der meine Grenzen überschreitet, darf ich diese Wut zulassen, und kann mit dieser Wut trotzdem konstruktiv dann Grenzen setzen?
Das wäre mir fast schon zu schnell gedacht. Also das ist richtig, aber ich glaube, das hört sich verkürzt, zu schnell an. Warum? Gerade wenn ich in Firmen bin und es im Gespräch um das Verhältnis Führungskräfte/Chef geht, lohnt es sich, da mal reinzugucken: Was ist denn das für eine Wut? Ist das eine biografische Wut? Wie oft habe ich in den Gesprächen entdeckt, dass der Konflikt zwischen Führungskraft und Chef ein Vater-Sohn-Konflikt war.
Oha.
Dass da eine ganz große Wut da war, die in irgendeiner Art und Weise nicht kanalisiert wurde. Und die wurde dann an der nächsten Begrenzung, die einen eingedämmt hat oder die gesagt hat „Das schaffst Du nicht“ oder „Das kriegst Du nicht hin“, auf den Chef projiziert. Und ein Chef kann einfach nicht das geben, was ein Vater nicht gegeben hat. Und dann waren die Enttäuschung und die Projektion auf den Chef so groß, dass er nicht gemerkt hat, dass es gar nicht um den Chef geht und gar nicht um das konkrete Beispiel. Und da muss man in die Tiefe gehen. Deswegen sage ich: Der Weg ist richtig, aber er klingt sehr verkürzt.
Man muss da in die Tiefe gehen und fragen: Was ist das für eine Wut? Was schenkt Dir Deine Wut gerade? Wo hat man Dir auf Deinem Lebensweg nicht eine Begrenzung zugestanden, keine Würde geschenkt, keinen Mut zugesprochen, keine Motivation zugesprochen, so dass Du jetzt sagst: „Der Chef gibt mir das auch nicht!“ Klammer auf, Klammer zu: was er gar nicht kann. „Und dementsprechend muss der ja gegen mich sein.“ Und dann ist der Dauerkonflikt programmiert.
Das heißt, dass, wenn Menschen Grenzen überschreiten, das weniger mit diesen Menschen zu tun hat, weil es wird immer Menschen geben, die meine Grenzen oder meinen Gartenzaun einfach übersteigen. Das hat mehr mit mir zu tun. Ich muss da ganz bei mir sein und bei mir anfangen. Meine Frage war ja so gestellt: Was kann ich gegen diese grenzüberschreitenden Menschen tun? Du sagst: Fang bei dir an!
Ja, fang bei Dir an und den schönsten Tipp in unserem Buch – das darf ich so sagen, weil diesen Teil meine Frau geschrieben hat – fand ich, und das hat mich ganz tief berührt, als meine Frau den Gedanken formuliert hat: Wenn jemand gerade von Dir Deine Kräfte will – und es kostet ja Kraft, wütend zu sein –, dann atme mal durch und sage: „So, meine Energie lasse ich jetzt bei mir. Ich schenke Dir jetzt meine Energie nicht, indem ich auf Dich wütend bin.“ Das fand ich einen wahnsinnig guten Gedanken und habe das selbst auch schon ausprobiert. Es funktioniert zu sagen: „Es kostet mich jetzt Energie, Dir meine Wut zu schenken, und ich merke, dass diese Energie, diese Kraft mir nachher fehlen wird.“ Entweder weil ich merke, ich habe mich sehr aufgebaut und dort reinbegeben oder mir fehlt die Kraft, weil ich danach im Großraumbüro in der Runde als Depp dastehe, weil ich irgendwann ausgeflippt bin, obwohl der Chef vielleicht schon zwanzig Mal mit spitzen Kommentaren immer wieder das Gleiche in mir angetriggert hat. Viktor Frankel spricht statt von der konstruktiven Wut von der Trotzmacht des Geistes. Dann, wenn etwas Negatives umgewandelt werden kann in ein gutes Maß.
Ich habe mal ein Interview mit einem Menschen geführt, der länger bei mir im Coaching war. Das war ganz spannend, weil der so eine tolle Lebensgeschichte hatte. Er hatte sich aus den schlechtesten, prekärsten Situationen zu einem richtig großen Unternehmer durchgewurschtelt. Ich habe ihn gefragt: Wie haben Sie das geschafft, aus diesem schwierigen Umfeld auszubrechen? Da sagte er: „Ich habe einen Satz gehabt, der der wichtigste Satz meines Lebens war. Das war ein Satz meines Vaters. Ich habe ihm in jungen Jahren kurz nach dem Schulabschluss erzählt, was ich beruflich vorhabe. Und ich habe große Träume gehabt. Ich habe damals schon Ideen gehabt für Firmengründungen. Ich habe das alles meinem Vater erzählt und der hat mir nur besoffen entgegengelallt und gesagt: Das wirst Du doch eh alles nicht schaffen.“ Und dann sagte er: „Diesen Satz habe ich mitgenommen in jedes Vorstellungsgespräch, in jede Prüfung. Und auch heute noch, wenn ich wichtige Entscheidungen für unsere Unternehmen treffen muss, wenn ich wichtige Personalentscheidungen treffen muss, wenn Momente kommen, die mir Angst machen, habe ich immer diesen Satz rausgekramt und habe für mich immer wieder neu eine Antwort auf diesen Satz gegeben und habe gesagt: „Ich werde Dir zeigen, dass ich das schaffe.“ Das ist Trotzmacht des Geistes: gelebte, konstruktive Wut.
Titelfoto von Richard Stachmann auf Unsplash
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Mehr Spaß am Job: Strategien gegen den Sonntagsblues.
Graut es Dir am Sonntagabend vor der kommenden Arbeitswoche? Hast Du das Gefühl, nur an Wochenenden und im Urlaub richtig zu leben? Andi Weiss hat es sich mit seiner Frau Martina zur Aufgabe gemacht, Menschen zu helfen, wieder neue Freude an der Arbeit zu finden, die ihnen gerade schwerfällt. Im Gespräch mit Joachim Zdzieblo stellt der Songpoet, Logotherapeut und Coach ihr neues Buch zu dem Thema vor. Ein inspirierender Austausch über Dauerlamentierer in der Arbeit, Wutausbrüche im Großraumbüro und Zufriedenheit mit zweitbesten Lösungen.
Interessante Links:
Andi Weiss, sein Buch „Nie wieder arbeiten! Impulse, die dir helfen, das zu lieben, was du tust“ und der Podcast „gerne Montag! Dein Podcast gegen den Sonntagsblues“: