Die Lebensmitte, die Jahre zwischen 40 und 60, ist eine Zeit der Reflexion: Man schaut auf sein Leben zurück, zieht Zwischenbilanz und orientiert sich nicht selten neu. Ein wunderbares Mittel, um ins Reflektieren zu kommen, ist Pilgern. Darüber spricht Joachim Zdzieblo mit dem Religionspädagogen Michael Kaminski. Er leitet das Pilgerzentrum St. Martin in München, arbeitet als Pilgerbegleiter und ist selbst rund 90 Tage im Jahr auf Tour. Insgesamt hat er auf Pilgerwegen über 20.000 km zurückgelegt. Michael gibt Tipps für Pilgerstarter und beantwortet die Fragen, ob man besser alleine oder zu zweit pilgern sollte und warum er Pilgerherbergen Hotels vorzieht.
Michael, mit Pilgern verbindet man ja immer auch Religion oder Glaube: Muslime pilgern nach Mekka, Katholiken nach Rom oder nach Santiago de Compostela. Kann man auch als nicht-gläubiger Mensch, als Atheist, pilgern?
Zunächst mal kommt das Pilgern ja als spirituelle Übung daher, und jede Religion kennt sie. Das moderne Pilgern, wie wir es heute erleben, ist oft eine Suche. Und natürlich können auch nichtreligiöse Menschen auf einer Suche sein und sich auf einen Pilgerweg begeben, entweder auf einen ganz persönlichen oder auf einen gefassten Pilgerweg wie die Jakobswege beispielsweise.
Erlebst Du das auch, dass Menschen zu Dir kommen, die grundsätzlich nicht gläubig sind und sagen „Ich möchte trotzdem pilgern“?
Ja. Ich denke gerade an einen französischen Pilger. Ich stand mit ihm in einer Herberge in Spanien und habe zu ihm gesagt: Hier ist ein prima Pilgerort. Hier gibt es eine Herberge, hier gibt es eine Bar und eine Kirche. Da meinte er, Kirche wäre ihm nicht so wichtig. Also er bräuchte für sein Pilgern das nicht unbedingt. Und ich habe gedacht: Was bist denn Du für ein Pilger? Und da hat er ein bisschen erzählt von seinem Leben.
Und so machen sich die Menschen dann auf. Und manche entwickeln mit der Zeit auch eine spirituelle Seite auf diesem Weg. Also manche starten als Wanderer und kommen als Pilger an. Andere, würde ich sagen, nutzen diesen Weg einfach für sich und bleiben mit spirituellen Fragen vielleicht unberührt.
Pilgern ist ja irgendwie wie Wandern. Beides macht man zu Fuß. Man hat ein Ziel, man hat Wanderstiefel an den Füßen. Was unterscheidet denn das eine vom anderen?
Ja, von außen sieht Pilgern und Wandern gleich aus. Es kommt aber auf den inneren Prozess an. Also Pilgern ist etwas, was man für das Innere tut. Wer wandern gehen möchte, der möchte schöne Natur, Bewegung, Zeit, vielleicht in die Berge gehen. Beim Pilgern ist es nicht so wichtig, wie die Natur drumherum aussieht, weil man sich auf einen inneren Weg begibt und sich mit inneren Themen auseinandersetzen möchte.
Woran merkt man das? Wenn man auf einer Berghütte einen Wanderer fragt, warum er hier ist, dann wird er sagen: „Weil ich halt diesen Berg erklimmen wollte, und weil die Natur so schön ist und weil ich mich bewegen möchte.“ Wenn man in einer Pilgerherberge jemanden fragt „Warum bist Du hier?“, dann wird dieser Mensch wahrscheinlich sagen: „Weil ich gerade mit Burnout zu kämpfen habe“ oder „Weil ich eine Krankheit überwunden habe“ oder „Weil ich mich neu orientieren will im Leben“ oder „Weil jemand gestorben ist, der mir sehr lieb war“. Also es sind Menschen, die eine innere Frage haben, ein Thema, auf der Suche sind. Und daraus ergeben sich dann intensive Gespräche, die ich beim Wandern zwar auch haben kann, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie so intensiv werden, ist nicht so groß.
Mir ist nur wichtig: Wandern ist toll und Pilgern ist auch toll. Weil manche denken dann immer: Jetzt ist Pilgern so viel toller als Wandern. Und ich habe doch auch spirituelle Erlebnisse oben auf dem Berg. Also ich will das eine gar nicht gegen das andere aufrechnen, sondern es sieht gleich aus und innerlich ist es ein bisschen anders.
Wie bist Du denn zum Pilgern gekommen? Was war Deine Motivation?
Ich komme eben gerade nicht vom Wandern her, also ich wandere nicht sehr gerne. Ich hatte als Religionspädagoge Hape Kerkeling gelesen, „Ich bin dann mal weg“. Ich bin reingerutscht. Es gab bei meinem damaligen Arbeitgeber, der Evangelischen Jugend München, eine Gruppe von jungen Männern, die Pilgern ausprobieren wollte. Und meine Kollegen haben das vorbereitet, sind dann aber ausgefallen, und ich habe dann gesagt: Na gut, dann gehe ich mit diesen jungen Männern eben auf den Weg. Und so habe ich eine Pilgergruppe angeleitet, noch bevor ich selber zum Pilgern gekommen bin.
Dann ist auf diesem Weg Spannendes passiert. Diese jungen Männer hatten genau diese Lebensfragen. Der eine litt unter der Scheidung der Eltern, der andere wollte Theologie studieren, aber war mit Glaubenszweifeln unterwegs. Und ein junger Arzt wusste nicht, ob er sich selbstständig machen oder im Krankenhaus bleiben soll. Das sind die Fragen, die die jungen Männer mitgenommen haben. Und auf dem Weg fanden sie Antworten oder Ideen, wie sie damit besser umgehen könnten. Das hat mich fasziniert und deswegen wollte ich dann von da aus weitergehen. Wir sind also von München auf dem Jakobsweg zum Ammersee gegangen und ich bin dann im Anschluss ein paar Wochen später vom Ammersee zum Bodensee auf dem Jakobsweg unterwegs gewesen. Und ja, da ist es dann schon passiert. Ich war dann sozusagen infiziert.
Infiziert und angefixt. Jetzt haben wir über eine Gruppe von jungen Männern gesprochen. Welche Motivation zum Pilgern siehst Du vor allem bei Männern in der Lebensmitte, also zwischen 40 und 60?
Das sind oft Themen der Neuorientierung. Sehr häufig ist die Arbeit ein Faktor. Man merkt, die Arbeit ist nicht sinnstiftend genug. Sie bringt zwar Geld, aber keine Erfüllung oder sie ist überfordernd. Ich hatte es vorhin schon gesagt, die Burnout-Gefahr oder es ist tatsächlich schon so weit, dass man diese Krankheit erleben muss. Und dann gibt es aber auch Menschen in der Lebensmitte, die sich in Beziehungsproblemen befinden, die sich vielleicht getrennt haben, die in Scheidung leben, die sich auf die Suche begeben müssen, wie sie ihr Beziehungsleben neugestalten wollen. Auch das ist durchaus eine Möglichkeit, das auf den Wegen zu bedenken und da auf neue Antworten zu kommen.
Da sind wir schon beim nächsten Thema. Du hast zwei Bücher über das Pilgern geschrieben „Pilgern quer durchs Jahr“ und „Pilgern mitten im Leben – wie Deine Seele laufen lernt“. In diesem Buch gibst Du auch Impulse zu verschiedenen Ausgangssituationen fürs Pilgern, zum Beispiel zur Neuorientierung im Leben. Das klingt ja schon nach einer Aufgabenstellung, die ich während des Pilgerns bearbeite. Auf der anderen Seite heißt es aber auch, dass man sich „innerlich leer“ auf die Pilgerreise begeben sollte. Was gilt denn nun?
Ich denke, der Weg richtet es. Entweder so oder so. Also wenn man ein Thema hat, dann nimmt man das mit. Und wenn man auf einem anderen Pilgerweg kein Thema hat, dann geht man leer los und wird auf dem Weg die Themen finden, die gerade im Leben wichtig sind.
Der Weg richtet es.
Der Weg richtet es. Die Erfahrung habe ich nach so vielen Pilgerkilometern durchaus gemacht, dass sich die Dinge schon zurechtruckeln, Schritt für Schritt sozusagen.
Du leitest ja das Pilgerzentrum hier in München. Wer kommt zu Dir und mit welchen Anliegen?
Hier sind Menschen, die Sehnsucht haben, die pilgern wollen und sich erstmal informieren wollen. Wo kann ich das? Was brauche ich dazu? Mache ich das allein? Mache ich das mit Partner, Partnerin oder mache ich das mit einer Gruppe? Das sind also ganz praktische Beratungen.
Es ist aber auch der Wunsch, sich über sein Lebensthema auszutauschen, also ich führe hier seelsorgerliche Gespräche. Ich schicke Menschen mit einem Segen auf den Weg und wir haben auch ein Angebot, dass Menschen nach dem Pilgern gesegnet werden. Wir organisieren Pilgertreffs zu ganz bestimmten Themen. Da laden wir Gäste ein, und Pilger und Pilgerinnen kommen, tauschen sich aus, lernen was Neues. Das sind meistens Menschen, durchaus in der Lebensmitte oder auch etwas älter, die über ihr Leben eben nachdenken wollen.
Es gibt auf den Pilgerwegen ja auch viele jüngere Pilger und Pilgerinnen. Die kommen aber eher nicht zu uns, sondern die probieren das eher aus. Die informieren sich über das Internet und gehen dann los. Ich habe hier mit Menschen zu tun, die im Alter etwas weiter sind. Und die erkennen, dass es doch nicht falsch ist, sich auch mit erfahrenen Menschen auseinanderzusetzen und sich dann erst auf den Weg zu machen.
Was macht denn für Dich eine gute Pilgerreise aus? Wann hat das Pilgern seinen Zweck erfüllt? Wo sagst Du „Ja, dann war es gut, daran kannst Du es festmachen“?
Das ist nicht so leicht. Das Pilgern wirkt nach, das ist, glaube ich, ein wichtiges Merkmal. Also wenn man zurückkommt, dann wird es gar nicht so leicht sein, wieder anzukommen, weil die Prozesse, die angestoßen worden sind, in der Regel noch nicht zu Ende sind. Das heißt, ich spüre auch nach dem Pilgern noch, dass sich etwas entwickelt und dass ich weiterdenken muss, dass ich vielleicht auch meinen Gefühlen nochmal neu folgen muss.
Und ich glaube aber schon, dass es auch einfach ein gutes Gefühl sein muss, wenn man an seinem Pilgerziel angekommen ist und spürt „Ja, jetzt bin ich erfüllt von dem, was da geschehen ist, von dem, was ich geleistet habe, von dem, was mir widerfahren ist. Die Unterstützung, die ich erlebt habe, die Schwierigkeiten, die ich geteilt habe“. Denn Pilgern ist immer auch irgendwann mal schwer, und ich brauche Hilfe. Und manchmal kann ich anderen helfen. Ich glaube, so eine Mischung hilft da sehr viel weiter. Und ja, wer solche Pilgererfahrungen gemacht hat, der wird meistens auch wieder auf den Weg gehen, weil man erlebt hat, dass Pilgern einfach Lebensqualität bringt.
Wie nachhaltig das Pilgern ist, darüber reden wir nachher noch. Es gibt ja das Buch von Hape Kerkeling, Du hast es ja auch schon erwähnt, „Ich bin dann mal weg“. Und mit diesem Buch ist Pilgern in der Allgemeinbevölkerung eigentlich auch hip geworden. Ich habe das Gefühl, dass der Jakobsweg gerade mit dem Ziel Santiago de Compostela ein bisschen wie das Malle der Pilgerziele ist. Also klingt für mich schon sehr, nicht ausgetreten, aber total Mainstream. Gibt es denn andere lange und schöne Pilgerrouten, die Du empfehlen kannst, die vielleicht nicht ganz so ausgetreten sind?
Zunächst muss ich ein wenig widersprechen. Ich habe den Eindruck, Hape Kerkeling hat zwar im deutschsprachigen Raum für das Pilgern sehr viel getan. Sein Buch ist mehr als fünf Millionen Mal verkauft worden. Und das heißt, eine ganze Menge kennen seine Sicht auf das Pilgern. Wenn man aber jetzt nach Spanien schaut, dann wird man erleben, dass 90 Prozent der Menschen dort nicht deutschsprachig sind. Das heißt, die kennen Hape Kerkeling gar nicht. Und das Pilgern hat durch ihn bei diesen Menschen überhaupt keinen Aufschwung erlebt, sondern es ist einfach eine ganz normale Entwicklung. Aber im deutschsprachigen Raum hat er sehr viel dafür getan. Das ist richtig. Jetzt geht seit zwei, drei Jahren in den Medien umher, dass gerade der Camino Frances, der Haupt-Jakobsweg, überlaufen sei, viele Partypilger seien unterwegs.
Partypilger (lacht). Habe ich auch noch nicht gehört.
Es wird von Ballermann-artigen Zuständen in Santiago gesprochen. Und das war für mich der Grund, in diesem Jahr selber nachzuschauen, wie es denn jetzt ist. Ich bin diesen Weg viermal gegangen, viermal im August, also auch zu Vergleichszeiten. Und ich habe ihn in diesem Jahr, 2024, so leer wie noch nie erlebt. Wir sind zum Teil zu dritt in Herbergen gewesen, die Platz für 70 Gäste haben. Also nahezu leer.
Und von daher kann ich sagen: Diesen Weg zu gehen, empfiehlt sich sehr, weil er von einer alten Tradition erfüllt ist. Deswegen würde ich sagen: nicht ausgetreten, sondern aufgeladen mit Energien von Pilgern und Pilgerinnen, die da schon vor tausend Jahren gelaufen sind und vielleicht in hundert oder in tausend Jahren immer noch welche laufen werden. Sich mit diesen Menschen zu verbinden, das kann auf diesem Weg sehr gut gelingen. Deswegen kann ich den doch sehr stark empfehlen.
Man hat mir gesagt, im Mai und im September, da sei es schon recht voll, aber drumherum keine Schwierigkeiten. Eine weitere Ausnahme sind auch die letzten 100 Kilometer. Da passiert nochmal was Anderes auf diesem Weg, weil viele Spanier eine Art Kurzzeitpilgern, fünf Tage nach Santiago, machen. Und da erlebt man dann, dass plötzlich die Zahl der Menschen, die da pilgert, sich verzehnfacht. Insofern verändert sich da was. Aber wenn man vorher schon 700 Kilometer gelaufen ist, dann nimmt man das mit einer entsprechenden Gelassenheit an.
Also Du kannst ihn empfehlen. Und diese Partypilgerei, die scheint doch nicht so vorhanden zu sein oder wenn, dann nicht in den Zeiten, zu denen Du unterwegs warst.
Richtig, weil wenn ich jetzt an Santiago denke, da gab es dann auch Feiern und wenn man dann genauer hinschaut, sind das die Studierenden aus Santiago und gar nicht die Pilger. Natürlich feiern Pilger auch, das will ich nicht in Abrede stellen, aber es ist deutlich weniger, als man denkt. Ich glaube, dass die Medien das ein bisschen hochpushen, weil ihnen diese Spannung aus spirituellem Wandern und gleichzeitig große Partys in Santiago, diese Spannung gefällt den Medien. Da machen die gute Meldungen draus.
Gibt es trotzdem eine andere Route, von der Du sagst, dass sie vergleichbar lang ist, auch super schön zu gehen, auf der man auch viele Pilger trifft? Gibt es andere Routen, in einem anderen Land?
Natürlich gibt es erstmal die verschiedenen Jakobswege. Es gibt durch ganz Europa die Jakobswege. Und ich bin jemand, der sagt: Brich doch an Deiner Haustür auf. Schau, wo der nächstgelegene Pilgerweg ist, und lauf dorthin und lauf dann auf dem gefassten Weg. Du merkst schon, dass ein gefasster, ein ausgeschilderter Pilgerweg mit Logistik, mir sehr wichtig ist, weil ich denke, dass ich da mehr von dieser Gemeinschaft spüre. Denn Pilgern ist auch deswegen so toll, weil es einerseits sehr individuell ist und andererseits ist man trotzdem Teil einer großen Gemeinschaft, die einen auch stützen kann. Und dafür muss man aber auch auf einen Weg gehen, der von einer Gemeinschaft geprägt wird.
Deswegen sind Jakobswege prima. Wer jetzt aber sagt „Ich will mal in Norwegen etwas ausprobieren“ oder „Ich möchte gerne in Italien pilgern“, dann bietet sich beispielsweise der Olafsweg in Norwegen an. Und in Italien wäre der Franziskusweg eine Möglichkeit. Das sind aber beides Wege, die ich gegangen bin und von denen ich sagen würde, dass sie nicht unbedingt für Einsteiger geeignet sind, weil sie sehr viel anstrengender sind als die meisten Jakobswege. Und man muss von den Etappen her sehr genau schauen, dass man auch rechtzeitig eine Unterkunft bekommt. Um es deutlich zu machen: Normalerweise geht man auf einem Jakobsweg im Schnitt 25 Kilometer pro Tag. Auf dem Franziskusweg haben wir nur 18, 19 Kilometer am Tag geschafft, weil doch sehr viele Höhenmeter zu bewältigen waren. Und beim Pilgern in Norwegen geht es auch mal durch ein Moor oder durch einen Bach. Also das ist schon fordernder.
Okay, also doch eher was für Geübte. Kommen wir gleich dazu. Wenn man jetzt wie ich Pilgerstarter ist, was wäre Dein Rat? Lieber mit kleinen Pilgerrouten – zwei bis fünf Tage – anfangen und sich allmählich steigern oder sagst Du, man kann gleich mit einer sechs- bis achtwöchigen Tour anfangen?
Beides ist möglich. Ich würde sagen, wenn es geht, einfach mal, um die Ausrüstung zu testen, ein, zwei Tage gehen und auch ruhig mit Rucksack gehen und spüren: Wie klappt es mit dem Gepäck? Wie klappt es mit den Wanderstiefeln? Das halte ich für keine schlechte Idee. Und dann kann man entweder nach und nach steigern oder man sagt: Jetzt habe ich meine Testläufe gemacht und jetzt gehe ich zwei Wochen oder zwei Monate. Aber es ist eben auch möglich, ungeprobt zu starten. Dann kommen diese Dinge, diese Erfahrungen eben auf dem Weg. Dann spürt man sehr schnell: Ah, ich habe doch zu viel eingepackt, ich muss was nach Hause schicken. Oder die Schuhe sind doch nicht so prima und ich spüre, ich bekomme Blasen. Und das muss man dann eben auf dem Weg kompensieren. Wenn man mehrere Wochen unterwegs ist, klappt es dann in der Regel, aber manche müssen leider auch abbrechen, weil sie sich doch gleich überfordert haben.
Dann würde ich wahrscheinlich zum Ersteren tendieren: klein anfangen und sich steigern. Wenn Pilgern damit verbunden ist, dass sich auch innerlich was bewegt, etwas gelöst oder ausgelöst wird, ist es besser alleine zu pilgern oder mindestens zu zweit, um sich auch austauschen zu können und nicht einsam zu werden?
Ich finde, wer sich traut, allein zu gehen, der hat viele Vorteile. Ich kann wirklich ganz nach mir schauen, nach meinen Bedürfnissen und muss weniger Kompromisse machen. Und ich kann mich auch nicht so leicht ablenken. Ich werde eben auf mich zurückgeworfen und kann mich wirklich mit meinen Bedürfnissen und meinen inneren Themen auseinandersetzen. Mit anderen zusammen ist es manchmal schwierig, weil man lenkt sich leicht ab, macht in Geschwindigkeit und in Etappenlängen Kompromisse. Und viele Menschen wollen sich beim Pilgern ja eigentlich verändern. Wenn ich mir zum Beispiel meine Partnerin dann mitnehme, die mich so liebt, wie ich bin, dann habe ich ein Problem. Ich will mich ja verändern.
(lacht) Du darfst so bleiben, wie Du bist.
Genau. Also das ist schon spannend. Andererseits liegt natürlich auch ein Schatz darin, wenn man zu zweit pilgert und sich gut versteht, ob das jetzt in einer Beziehung ist oder in einer Freundschaft. Das kann dann schon gehen. Aber ich würde sagen: Der Austausch mit anderen Pilgern und mit den Menschen am Wegesrand, der ist eigentlich der Wichtige, weil Menschen, die ich schon kenne und mitnehme, deren Ansicht weiß ich ja schon. Aber wenn ich unterwegs andere Menschen treffe, die mir Impulse geben können für mein Leben oder neue Fragen stellen können, das ist eigentlich das Wertvolle. Und das geht eben einfacher, wenn man allein ist.
Da hast Du ja schon meine nächste Frage beantwortet: Wenn jetzt ein Mann zuhört und sagt „Ich bin dabei, ich pilgere“, und die Frau sagt „Ui prima, ich komme mit“, dann ist die Idee vielleicht doch besser zu sagen: Lass uns alleine gehen, weil man sonst in diesem gewohnten Paarmodus bleibt, richtig? So verstehe ich das.
Ja genau. Ich pilgere auch zu zweit mit meiner Partnerin, und wir sind uns immer ganz bewusst: Wenn wir andere Menschen kennenlernen wollen, dann müssen wir Signale geben „Wir sind offen, wir wollen Euch kennenlernen“, sonst denken die eben, wir sind im Pärchenmodus, und wollen nicht stören. Wir gehen aber gerade, weil wir auch andere Menschen kennenlernen wollen und deswegen müssen wir eben sehr stark auf andere zugehen und signalisieren „Hallo, Ihr seid interessante Menschen, wir wollen Euch kennenlernen. Ihr seid diese Schätze des Weges.“
Es gibt eine Sache, die mir beim Lesen des Buches von Hape Kerkeling hängen geblieben ist, und das war seine Abneigung gegenüber Pilgerherbergen, wo man in großen Schlafsälen mit vielen Menschen gemeinsam übernachtet. Mir würde das, ehrlich gesagt, genauso gehen. Du empfiehlst trotzdem, in Pilgerherbergen zu übernachten. Warum?
Ich finde, dass man die Menschen in Pilgerherbergen besser kennenlernen kann. Wenn man dort nebeneinander kocht, die Wäsche wäscht oder ins Tagebuch schreibt, die Wunden verpflastert, die neuen Etappen plant, dann kommt man miteinander ins Gespräch und lernt sich einfach besser kennen, sozusagen in der Alltagssituation.
Und die Horrorbilder von den Herbergen will ich nicht unbedingt bestätigen. Es gibt sehr schöne Herbergen mit kleineren Schlafräumen für vier bis sechs oder acht Menschen und in denen es einfach auch gut ist, sich aufzuhalten. Nicht alle Herbergen sind schmuddelig und dreckig. Deswegen würde ich da schauen, dass ich schon die richtigen finde. Und dann hat eine Herberge natürlich auch den großen Vorteil, dass ich es mir finanziell auch leichter leisten kann. Die Übernachtung in Herbergen kostet in der Regel im Moment zwischen 10 und 15 Euro. Wenn ich jetzt vier oder sechs Wochen unterwegs bin und ich nehme mir jede Nacht ein Hotelzimmer für 50 Euro, dann geht das natürlich schnell ins Geld. Insofern ist eine gut gewählte Herberge einfach eine tolle Chance. Bei Hape Kerkeling kann man nämlich sehen, dass er in der ersten Hälfte des Buches fast keine Menschen kennenlernt, weil er sich eben abends immer wieder in sein Kämmerchen zurückzieht. Und diesen Schatz, den er dann entdeckt, dass seine Mitpilgerinnen diese Reise besonders machen, den entdeckt er eben erst in der zweiten Hälfte.
Interessant. Okay, Du hast mich zu 80 Prozent überzeugt. (lacht)
Ich finde, man muss ja auch da nicht stringent sein. Man kann ja mal in der Herberge übernachten und dann auch mal wieder ein Zimmer mieten. Das lohnt sich ohnehin. In größeren Städten, wenn man zum Beispiel in Spanien unterwegs ist, dann schließen die Herbergen abends um zehn. Und bis morgens um acht muss man raus sein. Wenn das spanische Nachtleben aber erst um neun oder um zehn losgeht, und ich möchte da was von miterleben, dann ist es gut, in so einer Stadt doch ein Zimmer zu nehmen, damit ich nachts um zwölf oder eins ins Bett gehen kann und morgens vielleicht ein bisschen länger schlafen kann.
Guter Tipp! Dann hat man so einen Wechsel von genügend Begegnung oder Möglichkeit zur Begegnung, aber auch Privatsphäre, mal abschalten und doch Party feiern. (lacht)
Womöglich, genau.
Ich kenne einen, der sich zwar nicht auf eine Pilgerreise vorbereitet hat, sondern auf eine siebenwöchige Wanderung in den Alpen. Er hat sein Gepäck minutiös geplant und auf jedes Gramm geachtet. Machen das Pilgerprofis auch so, dass sie ihre Ausrüstung extrem optimieren? Bist Du auch einer, der jedes Teil auf die Milligramm-Waage legt?
Ich glaube, das ist Typsache. Man fängt normalerweise mit etwas zu viel Gepäck an und arbeitet sich dann runter und versucht ein, zwei, drei Kilo weniger im Rucksack zu haben. Und das gelingt meistens auch. Und das gelingt tatsächlich so, indem ich die beiden T-Shirts abwiege auf der Küchenwaage und ich das Leichtere mitnehme und das Schwere zuhause lasse. Das sind dann schon ein paar Gramm. Aber ich schneide mir keine Waschetiketten aus den T-Shirts raus oder säge meine Zahnbürste ab. All das gibt es ja auch, und das halte ich für übertrieben. Und ich muss für mich selber schauen, welchen Luxus ich mir auch leisten möchte. Ich bin jemand, der zum Beispiel gern ein Buch mit auf dem Weg hat. Und ein Buch wiegt eben etwas. Und diese 100 Gramm, die ich dann extra nehme…
Das ist es Dir wert.
Genau, das ist es mir wert. Die muss ich mir leisten wollen. Andere haben andere Luxusartikel wie einen Föhn oder so dabei. Deswegen meine ich, es ist eine Bewegung: Man fängt schwerer an, wird leichter und wenn man dann noch Platz im Rucksack hat, dann kommt man doch wieder auf eine Idee, was man vielleicht noch mitnehmen könnte, was einem guttäte.
Mit wie viel Kilo ziehst Du dann so los auf eine größere Reise?
Das sind ungefähr 10 Kilo.
Ja, wiegt auch schon ein bisschen was. Das ist wie ein Baby mit 8 Kilo und dann noch die Kraxe. Das ist schon auch Gewicht, was man nicht unterschätzen darf.
Ja, das ist richtig. Die Empfehlung geht dahin – das ist beim Wandern sicherlich auch nicht anders –, dass man möglichst nicht mehr als 10 Prozent des Körpergewichts mitnehmen sollte. Das würde bei mir jetzt gerade so hinhauen.
Dann kommen wir zu dem Punkt, den wir auch schon gestreift haben: die Nachhaltigkeit des Pilgerns. Ich habe bisher nicht gepilgert, aber immer mal wieder stille Tage im Kloster verbracht. Danach ist nicht selten der Alltag über mich hereingebrochen, und ich hatte manchmal das Gefühl, dass die Tage vielleicht gar nicht so viel gebracht haben. Es heißt, auch Pilgern verändert. Wie nachhaltig wirkt diese Veränderung im Alltag? Ist das wirklich von Bestand oder besteht da auch die Gefahr, dass der Alltag mich wieder wegschwemmen lässt?
Das gibt es freilich, ja. Also man kann eben diese Erfahrung machen, gerade wenn es vielleicht nicht eine sehr lange Pilgerreise war, sondern wenn man eine Woche pilgern war oder so. Und dann kann es durchaus sein, dass man nach Hause kommt und denkt „Ach, jetzt ist eigentlich gar nichts passiert“. Manchmal merkt man „Doch, es ist was passiert“, aber erst Wochen oder Monate später.
Wenn man sich allerdings beim Pilgern überlegt, was ich konkret in meinem Leben verändern möchte, und mir auch konkrete Ziele setze, dann habe ich es natürlich leichter, die Nachhaltigkeit des Pilgerns zu erleben. So mache ich es auch mit meinem eigenen Pilgern, aber auch mit Gruppen, dass es immer gegen Ende darum geht, was ich mit nach Hause nehme, was ich zu Hause verändern will, wer mir dabei helfen wird, was mir im Weg dazu stehen wird. Solche Dinge versuche ich am Ende der Pilgerreise zu bedenken, damit ich wirklich auch Spuren in meinem Leben erkennen kann.
Dann sind wir wieder da, wo wir gestartet sind. Pilgern als ideales Tool, ideales Werkzeug, um zu reflektieren. Und das Reflektieren geht dann weiter, nicht nur während der Pilgerreise, sondern auch am Ende und darüber hinaus.
Ja. Beispielsweise Neuorientierung in der Lebensmitte. Wenn ich das vorschlage, als Gruppe oder auch wenn man es allein macht, dann finde ich es prima, wenn man sich jeweils ein Tagesthema nimmt. Und bei vier Tagen würde ich sagen: Erster Tag, mal die Gegenwart anschauen. Wie ist mein Leben im Moment? Am zweiten Tag zurückschauen: Wie wurde ich, wie ich bin? Und am dritten Tag vorausschauen: Wo will ich eigentlich hin? Wo könnte mich mein Weg hinführen? Und am vierten Tag dann die Erkenntnisse aus den Tagen eins bis drei so formulieren und schauen, dass ich sie in mein normales Leben mitnehmen kann. Das wäre jetzt zum Beispiel so ein Miniprogramm, wenn ich nur wenig Zeit habe, aber mich trotzdem intensiv mit einem Lebensthema auseinandersetzen möchte.
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Pilgern in der Lebensmitte: Wie Männer den eigenen Weg neu entdecken.
Die Lebensmitte, die Jahre zwischen 40 und 60, ist eine Zeit der Reflexion: Man schaut auf sein Leben zurück, zieht Zwischenbilanz und orientiert sich nicht selten neu. Ein wunderbares Mittel, um ins Reflektieren zu kommen, ist Pilgern. Darüber spricht Joachim Zdzieblo mit dem Religionspädagogen Michael Kaminski. Er leitet das Pilgerzentrum St. Martin in München, arbeitet als Pilgerbegleiter und ist selbst rund 90 Tage im Jahr auf Tour. Insgesamt hat er auf Pilgerwegen über 20.000 km zurückgelegt.
Interessante Links:
Michael Kaminski im Spirituellen Zentrum Sr. Martin, München: https://www.stmartin-muenchen.de/pilgern.html
Michaels Pilger-Bücher:
- „Pilgern mitten im Leben. Wie deine Seele laufen lernt“: https://www.herder.de/religion-spiritualitaet/shop/p3/59019-pilgern-mitten-im-leben-kartonierte-ausgabe/#:~:text=Am%20Anfang%20des%20Pilgerns%20steht%20die%20Sehnsucht%20danach,%20das%20Leben
- „Pilgern quer durch’s Jahr: 12 Wege für die Seele“: https://www.amazon.de/Pilgern-quer-durchs-Jahr-Seele/dp/3532628414#:~:text=Pilgern%20quer%20durch’s%20Jahr:%2012%20Wege%20f%C3%BCr%20die%20Seele%20Taschenbuch