Wahre Liebe mag selten sein, wahre Freundschaft ist noch seltener. Das soll Albert Einstein mal gesagt haben. Und dieses seltene Phänomen nehmen wir in diesem Beitrag mal genauer unter die Lupe. Mein Gesprächspartner ist Steve Stiehler. Er ist Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule St. Gallen in der Schweiz. Und er hat sogar über Freundschaften promoviert. Titel seiner Doktorarbeit war: „Männerfreundschaften – eine vernachlässigte Ressource“.
Freundschaften sind ja ein populäres Thema – gefühlt schon immer. Wenn ich an meine Zeit als junger Erwachsener denke, da gab es eine Sitcom aus den USA, die auch bei uns sehr beliebt war: Friends. Wie wichtig sind Freundschaften heutzutage?
Aus meiner Sicht haben Freundschaften an Popularität nichts eingebüßt. Im Gegenteil, man könnte sogar sagen, dass sie noch an Bedeutung gewonnen haben. Dadurch, dass wir in einer Gesellschaft leben, die kurzlebig ist, die, was Beziehungen, Partnerschaften angeht, sehr kleinteilig bis fragmentiert ist, bildet Freundschaft heute manchmal ein fast zu idealisiertes Gut in unserer Gesellschaft und ist, glaube ich, auch nicht mehr wegzudenken als eine Beziehungsform, die Bedeutsamkeit hat für viele Menschen. Das hat allerdings den Nachteil, dass es auch Menschen ohne Freundschaftsbeziehungen gibt und die zunehmend unter Druck geraten. Das Thema Einsamkeit ist ja gerade auch genauso populär wie Freundschaften.
Genau, dazu habe ich auch schon eine Folge gemacht. Die vorletzte Folge* ging über das Thema Einsamkeit… Jetzt haben Sie gesagt: Freundschaften werden auch idealisiert. Heißt das, dass man zu viel in Freundschaften hineindeutet oder hineindeuten will, was eine Freundschaft gar nicht leisten kann?
Ja. Also idealisiert heißt, dass Freundschaft einerseits in Medien sehr populär ist und auch sehr ausgebreitet und idealisiert wird. Im Prinzip soll sie alles auffangen, was unsere Gesellschaft produziert an Nichtbeziehung, an gescheiterten Beziehungen – und das kann Freundschaft in der Regel gar nicht leisten. Auch wenn Freundschaftsbeziehungen sehr differenziert sind – mit dem einen Freund macht man Alltagssachen, mit dem anderen macht man Sport, mit dem nächsten verreist man – ist es doch so, dass das Ideal der ganzheitlichen Freundschaftsbeziehung, die alles umfasst, eher ein altes Ideal ist. Und gleichzeitig ist Freundschaftsbeziehung heute etwas, was auch gepflegt werden muss, was Zeit braucht, was auch Auseinandersetzungen braucht. Und das ist etwas, was auch nicht mehr selbstverständlich ist und deswegen ist es ein bisschen, ich würde sagen, ambivalent. Auf der einen Seite wird Freundschaft als Heilmittel angerufen, als Ideal, und gleichzeitig sind viele Bedingungen eher „freundschaftsfeindlich“.
Und die wären?
Na ja, wie kommt man zu Freunden? Wenn man jetzt zum Beispiel an die Jugend denkt: In der Jugendphase werden viele Freundschaftsbeziehungen geschlossen, die teilweise ja sogar ein Leben lang halten. So gibt es beispielsweise heute in der Jugend immer weniger Möglichkeiten, in einer kontinuierlichen Phase mit unterschiedlichen Personen zusammen zu sein. Kommt man aufs Gymnasium, hat man irgendwelche Kurse. Dann ist die Mobilität heute sehr hoch. Es ist nicht mehr klar, dass die Leute heutzutage längere Zeit an einem Ort verweilen. Man hat Freundschaften oder fängt an, Freundschaften zu schließen, und dann ist die Person weg.
Da bietet natürlich Social Media den Vorteil, dass man über weite Strecken Beziehungen aufrechterhalten kann. Aber gleichzeitig, das muss man auch sagen, muss ja erstmal eine Freundschaft entstehen können. Und die Möglichkeiten, dass eine tiefe, emotionale Freundschaft entstehen kann, sind doch heute eher schwieriger geworden. Denkt man an die Lebensmitte der Männer mit Karriere und Familie. Also das Zeitmanagement ist doch heute ein anderes. Es sind alle sehr beansprucht, auch durch die engagierte Vaterschaft beispielsweise, die ja ein Gut ist. Aber engagierte Vaterschaft heißt in der Regel: Ich widme mich der Familie, den Kindern, nehme da berechtigterweise einen Versorgungsauftrag an. Und gleichzeitig wissen wir aus der Forschung, dass viele Männer dann doch nicht weniger arbeiten. Dass sie vielleicht eine 80-Prozent-Stelle annehmen, aber dann trotzdem 100 Prozent arbeiten, um keinen Karriereknick zu erhalten. Das sind so Bedingungen, die eher nicht für die intensive Freundschaftsbeziehung sprechen, es sei denn, man hat sie schon hergestellt.
Okay, ich höre heraus: Prio 1 ist entweder Familie oder Beruf und dann kommen irgendwann die Freunde. Vielleicht schauen wir mal auf die Geschlechter: Gibt es denn Unterschiede zwischen Männer- und Frauenfreundschaften?
Es gibt sicherlich Unterschiede. Ich kann zu den Unterschieden wenig sagen, weil ich jemand bin, der Männerfreundschaften erforscht und dies nicht im Vergleich zu Frauenfreundschaften. Das Problem, was sich aus meiner Sicht stellt, ist, dass Freundschaftsbeziehungen tatsächlich eines der wenigen gesellschaftlichen Themen sind, bei dem ein weiblicher Beziehungsmaßstab besteht. Das heißt: Vergleicht man Männerfreundschaften mit Frauenfreundschaften, schneiden sie immer schlecht ab, sind sie immer ein Manko, sind sie immer einem Stigma ausgesetzt. Und um sich von dem zu befreien, muss man sagen, macht der Vergleich gar keinen Sinn. Mir geht es darum, herauszuarbeiten und zu untersuchen, was denn Männerfreundschaften auszeichnet, was für einen Wert Männerfreundschaften für Männer haben und nicht in den Vergleich zu gehen. Also die eigene Substanz, die eigene Beziehungsqualität darzustellen, aber nicht in einem Vergleich, dass das eine oder andere besser oder schlechter ist. Und dann habe ich schlicht und ergreifend auch keine Ahnung von Frauenfreundschaften. Ich habe mich auch wenig damit auseinandergesetzt.
Das ehrt Sie, wenn Sie sich nicht dazu äußern, weil Sie das Thema nicht als Fachgebiet haben. Auf das Thema, was zeichnet eine Männerfreundschaft aus, gehen wir gleich ein. Vielleicht anders formuliert: Männerfreundschaften wirken auf den ersten Blick oberflächlicher als Frauenfreundschaften. Männer reden über Sport, über den Job, treffen sich zu gemeinsamen Hobbys, aber über Wesentliches, was sie innerlich beschäftigt, darüber reden sie weniger oder nicht. Ist da was dran?
Ich würde sagen, darüber reden sie nicht direkt. Indirekt reden sie sehr viel. Und indirekt können gute Freunde schon herauslesen, wie es dem Gegenüber geht. Es gibt ein, in der Wissenschaft nennt man das, erweitertes Verständnis von Selbstoffenbarung. Also wenn man davon ausgeht, dass auch in den Erzählungen über die Arbeit, wie schlecht es wieder mit dem Chef läuft, auch Selbstoffenbarungen stecken. Die sind nicht selbstverständlich. Aber sie sind indirekter und in der Regel an gemeinsame Aktivitäten gebunden.
Das gibt es zwar mittlerweile mehr, aber es ist dennoch seltener, dass man sich hinsetzt und sagt: „Du, jetzt erzähl mir mal Deine Gefühle. Wie fühlst Du Dich gerade? Wie kommst Du mit allem zurecht?“ Das ist nach wie vor etwas Ungewohntes für viele Männer, weil das im Aufwachsen nicht erlernt wird. Und es ist eher sogar gefährlich, würde ich sagen. Also viele wären wahrscheinlich irritiert, wenn jemand sie direkt nach ihrer sexuellen Beziehung zur Partnerin oder zum Partner befragt, zu ihren ureigenen Gefühlen. Deswegen spreche ich eher von einer Indirektheit oder von Brücken, die es braucht. Aber dass Männer keinen inneren, keinen emotionalen Austausch haben, dem würde ich widersprechen. Aber es ist so, dass Männerfreundschaften auf den ersten Blick, wenn man eben mit dem weiblichen Beziehungsmaßstab darauf schaut, oberflächlich sind.
Sie haben gerade gemeinsame Aktivitäten erwähnt. Welche Rolle spielen diese in Männerfreundschaften? Wie wichtig ist es, dass man gemeinsam irgendwas tut?
Aus meinen Untersuchungen heraus und aus der jahrelangen Beschäftigung damit ist Aktivität der Beziehungsträger. Also die gemeinsame Aktivität ist der Beziehungsträger. Über die gemeinsame Aktivität, dass man miteinander intensiv etwas erlebt, entstehen gemeinsame Erfahrungen, entsteht ein gemeinsamer Wissensschatz, die nur die beiden miteinander verbundenen Freunde kennen und niemand anders. Und das ist ein Beziehungsträger für Männer. Und es entspricht auch dem Prinzip des Aufwachsens von vielen Männern, die ja nach wie vor sehr nach außen gerichtet aufwachsen. In der Fachsprache heißt es externalisiert. Also sie wachsen nach außen gerichtet auf, haben im Außen ihre Lebens- und Erlebenswelt und müssen sich dort auch beweisen. Und Männerfreundschaften nehmen das auf, dass man miteinander Dinge tut.
Wenn ich mal ein Bild skizzieren darf, weil wir gerade bei der Selbstoffenbarung waren. Wandern ist ein schönes Beispiel. Man kann miteinander wandern gehen, sich mal zurückfallen lassen, dann läuft man wieder nebeneinander, dann läuft mal einer vor, man kann miteinander sprechen oder auch mal stumm sein. Das hat auch etwas von einer gewissen Kontrolle, wann ich was wie preisgebe. Aber ich fühle mich doch in einem Rahmen, der mir vertraut ist. Diese Aktivität ist mir vertraut. Das Miteinander ist mir vertraut. Diese Vertrautheit ist in Männerfreundschaft selten völlig losgelöst von gemeinsamer Aktivität. Das kann sich verselbstständigen, aber in der intensiven Phase braucht es das.
Da sind wir jetzt schon mittendrin, was eine gute Männerfreundschaft auszeichnet. Was zeichnet eine gute Männerfreundschaft noch aus?
Das sind, glaube ich, die klassischen Plattitüden, also Verlässlichkeit und vor allem Loyalität. In Männerfreundschaften ist es ganz wichtig, dass, wenn Männer sich offenbaren, sie zu 120 Prozent davon ausgehen möchten, dass keinem Dritten erzählt wird, was man miteinander besprochen hat. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, woran Männerfreundschaften scheitern, also wenn es zum Krach kommt. Und das bildet eine Vertrauensbasis, die in der Hinsicht wichtig ist, dass man in Männerfreundschaften tatsächlich so sein darf, wie man ist.

Unverstellt.
Unverstellt. Authentisch. Wir müssen doch in vielen Beziehungsformen, selbst in Partnerschaften, gewisse Rollen erfüllen. Das ist, glaube ich, tatsächlich ein Unterschied, der Männerfreundschaften zu so einem hohen Gut macht, dass man mal keine Erwartungen erfüllen muss, dass man so sein kann, wie man ist.
Also nicht zweckorientiert?
Genau. Nicht zweckorientiert.
Wir haben ja vorher schon darüber gesprochen, dass Männerfreundschaften wichtig sind. Wie wichtig oder welche Bedeutung haben Sie denn speziell in der Lebensmitte im Vergleich zur Jugendzeit oder zur jungen Erwachsenenzeit?
Vielleicht zwei Punkte dazu. Eine Seite ist, was wir vorhin gesagt haben: Es gibt zunehmend Männer in der Lebensmitte, die ihre Freunde nicht aufgeben aufgrund von Familiengründung oder Karriere, sondern für die Freunde ein Teil der Work-Life-Balance sind und zum Wohlbefinden dazugehören. Was sich tatsächlich oftmals verändert, ist die Intensität des Miteinanders und wie das Miteinander gestaltet wird. Also wenn wir, was wir vorhin besprochen hatten, eine intensive Zeit miteinander hatten und ein Erfahrungsschatz da ist, dann ist es kein Problem, wenn man Freunde auch nur einmal im Jahr sieht und ab und zu mal miteinander spricht oder mal eine WhatsApp-Nachricht schickt. Das ist möglich.
Hier zeigt sich meines Erachtens der Vorteil der Aktivitätsbindung, und zwar, dass es nicht um die Quantität geht, sondern um einzelne Qualitäten. Oftmals haben Männer in der Lebensmitte Rituale. Das heißt, wir treffen uns immer zum Himmelfahrt, zum Vatertag, und ziehen rum. Oder wir fahren immer eine Woche in die Skiferien. Die Freundschaft hat also eher etwas Routiniertes, Ritualisiertes. Und damit hat sie aber auch einen sehr festen Bestand. Damit kann auch das ganze Jahr ganz wenig laufen. Weil man eben eingespannt ist im Job, vielleicht noch in der Pflege der Eltern und andere Sachen. Die Freundschaft ist nicht so abhängig davon, dass man eine permanente Kontinuität der Auseinandersetzung oder des Miteinanders hat. Das ist ganz wichtig.
Was es auch gibt, gerade bei Männern in der Lebensmitte, die Familie haben, sind Freunde für den Alltag. Die sind meistens gar nicht emotional so nah, aber über die Kinder oder über die Partnerin / den Partner gibt es immer wieder alltägliche Kontakte. Da ist oft die Grenze zwischen „Ist das ein Freund oder ist das kein Freund?“ nicht fest oder schwammig. Aber das sind zumindest Beziehungen zu Männern, wo man zumindest einen Austausch miteinander hat.
Wenn man in einer Partnerschaft lebt, hat man ja auch Paarfreundschaften. Man trifft sich immer als Pärchen. Können diese die Männerfreundschaften ersetzen? Immerhin ist ja immer auch ein Mann dabei.
Nein. Da würde ich ausnahmsweise rigoros nein sagen. (lacht) Einerseits sind die Paarfreundschaften oftmals durch die Partnerin initiiert, wenn man das jetzt mal heteronormativ betrachtet. Sie sagt, dass man sich mal wieder treffen müsste. Das Zweite ist: Freundschaft besteht nur zwischen zwei Personen. Da bin ich sehr altmodisch in meiner Ansicht. Freundschaft kann nur zwischen zwei Personen entstehen. Es gibt Freundschaftskreise oder Cliquen, aber das ist eine andere Form. Das Dritte ist – und genau das ist ja die Gefahr –, wenn man jetzt an die „einsamen alten Männer“ denkt: Das sind oftmals Männer, die sich im Beziehungsmanagement voll auf ihre Partnerin verlassen haben.
In unserer Elterngeneration – ich glaube, wir beide sind ähnlich alt – ist das in der Regel noch so. Das hat sich auch verändert, zum Beispiel durch die späte Scheidung, wo Partnerinnen sich mit 60, 65 noch scheiden lassen, was es früher in der Regel kaum gab. Dann stehen viele Männer gerade am Ende der Lebensmitte, am Übergang in die Pensionierung vor einem sozialen Netz, das es gar nicht gibt.
Weil die Frau alles organisiert hat.
Genau, genau. Und dann gibt es noch das Phänomen, dass Männerfreundschaften zurückgestellt worden sind, weil die Partnerin die Freunde nicht so mag oder sie immer zusammen trinken. Gerade in der älteren Generation haben wir viele Männer, die sozial eher wenig integriert oder sogar einsam sind. Die ihr Beziehungsmanagement ihrer Partnerin überlassen haben und das dann schiefgegangen ist, weil sie verstorben ist oder sich getrennt hat.
Wir haben vorher schon darüber gesprochen: Es gibt immer Zeiten, in denen man schwer beschäftigt ist, in der Zeit des Karriereaufbaus, der Gründung einer Familie, meistens im Alter zwischen Ende 20 und Anfang 40. Und da liegen bei vielen Männern Freundschaften aus der Jugend brach. Wie kann man diese wieder reaktivieren, wenn man 15, 20 Jahre keinen Kontakt mehr miteinander hatte?
Das ist eine ganz wichtige Frage. Wenn wir mal in uns reinhören, werden bei uns allen wahrscheinlich ein, zwei Freunde auftauchen, die irgendwie vom Gefühl her noch Freunde sind, mit denen man aber schon viele Jahre keinen Kontakt mehr hatte. Wenn man sich melden würde, wäre es schön oder, wenn man was hätte und Unterstützung bräuchte, könnte man zu ihm gehen. Das nenne ich ruhende Freundschaften. Und ruhende Freundschaften kann man durchaus reaktivieren. Es kostet allerdings eine gewisse Überwindung. Man müsste aktiv werden und eine WhatsApp schreiben oder ähnliches. Denn im Grunde ist die Kontaktaufnahme einfach, wenn man sagt: „Du, lass uns mal wieder wandern gehen. Lass uns mal wieder Radfahren gehen.“
Für die, die an die Aktivität anknüpfen können, ist das am einfachsten. Wenn ich jetzt schon ein Knieleiden habe und nicht mehr Badminton spielen kann, dann muss ich was Anderes machen. Aber dieses „lass uns mal wieder etwas zusammen machen“ ist ja sehr niederschwellig. Aber man muss seinen Schweinehund überwinden – es gibt so schöne Wörter im Deutschen – und mal den ersten Schritt machen und Kontakt aufnehmen. Denn in der Männerfreundschaft gibt es in der Regel eben nicht diesen Ausgleich „ich rufe dreimal an und dann rufst du auch dreimal an“. Über die Länge gesehen, muss es etwa ähnlich sein, dass man gibt und nimmt. Aber dieses Verhandeln „jetzt habe ich dreimal angerufen, jetzt musst du auch dreimal anrufen“, das gibt es nicht. Deswegen ist es eigentlich einfach, aber man muss einen Schritt machen.
Also ich habe so gemischte Erfahrungen gemacht. Ich habe tatsächlich nach 20 Jahren wieder einen Schulfreund reaktivieren können. Grüße nach Schweden an dieser Stelle. Und das ist super schön, wenn man sich nach 20 Jahren wieder trifft und es ist so, als wäre keine Zeit dazwischen gewesen. Man hat auch, was Sie vorher gesagt haben, diesen gemeinsamen Erfahrungsschatz, die gemeinsame Schulzeit. Geschichten, die man erlebt hat, die man nochmal Revue passieren lässt. Und bei anderen, auf die ich zugegangen bin, habe ich das Gefühl, dass sie sich gefreut haben, man hat sich auch verabredet, aber wenn ich nicht pushe, dann geht nichts vorwärts. Und da habe ich es mir einfach angewöhnt, diese Freunde innerlich freundlich zu entlassen, mich von ihnen zu verabschieden und zu sagen „hey, Du warst eine Zeit lang ein guter Freund“. Aber ich spare mir diese Kraft, immer wieder auf sie zuzugehen.
Ja, aber schön, wie Sie schildern, wie Sie es versucht haben. Und das, glaube ich, ist der wichtige Schritt. Und na klar, bei einem klappt es, bei zweien merkt man, da ist doch kein Draht mehr da. Bei Klassentreffen hat man das oft. Da wird immer so getan, als wäre man jetzt ganz enge Freunde und schreibt sofort wieder. Da findet in der Regel vielleicht mal mit einem noch ein Kontakt danach statt. Aber dieser eine, der ist es dann auch wert.

Absolut!
Weil es sich einfach zeigt: Da ist eine emotional nahestehende Person, die einem immer noch nahesteht und die gut ist fürs Wohlbefinden. Und die man auch als Backup hat, wenn mal was sein sollte. Da jemanden zu haben, der einen unterstützt. Allein das Gefühl, dass es jemanden gibt, der einen unterstützt, das ist schon fürs Wohlbefinden extrem wichtig.
Wir haben vorher darüber gesprochen, dass die Männer heute nicht nur einen Job haben und Freunde, sondern auch mehr Wert auf Familie legen. Also man hat Beruf, man hat Familie, man hat vielleicht andere Verpflichtungen wie ein Ehrenamt. Wie kann man das im Alltag trotzdem schaffen, Freundschaften zu pflegen, wenn gefühlt weniger Zeit zur Verfügung steht als den Männern, die vor 30 Jahren in der Lebensmitte standen?
Auf der einen Seite haben uns das unsere Väter und Großväter vorgemacht: Man hat einen regelmäßigen Termin. Da gab es zum Beispiel mal den Stammtisch. Das muss jetzt nicht der Stammtisch sein, aber es gibt einen regelmäßigen Termin. Und der Termin ist heilig. Das ist meines Erachtens immer noch am wirkungsvollsten.
Das Zweite ist, dass man, wenn man gute Freunde hat und diese Freundschaften pflegt, immer auch mal im Alltag Assoziationen hat. Und die einfach mit dem Freund zu teilen. „Habe gerade an Dich gedacht, weil ich Deine Lieblingsjeans im Laden gesehen habe. Trägst Du die immer noch?“ Das reicht schon. Also das Teilen, dass man an den anderen gedacht hat, dass er immer noch Teil ist, das ist etwas, was heute sehr einfach ist, aber was man einfach mal machen muss. Und dann, finde ich, spricht auch nichts dagegen, sich den Freiraum zu nehmen, mal etwas miteinander zu unternehmen. Oder mutig zu sein und Freunde auch mal in die eigene Welt einzuladen. Ob das dann passt oder entspannt ist oder überhaupt was bringt, das kann man hinterher schauen. Auch mal sagen: „Wenn Du Lust hast, bist Du herzlich eingeladen. Komm doch vorbei. Ich weiß, bei uns ist es turbulent, aber ich würde mich freuen.“ Das wären die Dinge, die mir ad hoc einfallen.
In der Lebensmitte passieren ja auch so Dinge wie Scheidungen, wo auf einmal ganze Freundeskreise wegbrechen, weil die eben mit der Frau zusammenhingen. Oder man zieht nochmal für einen neuen Job in eine andere Stadt. Wie gelingt es, neue Männerfreundschaften in dieser Lebensphase zu knüpfen?
Ja, das ist gar nicht so einfach, weil man muss sich ja die Zeit dafür nehmen, wieder eine intensive gemeinsame Zeit zu verbringen. Und sicherlich ein Teil ist, gemeinsam ein Hobby zu reaktivieren. Das, was wir gerade gesagt haben, alte Freundschaften, ruhende Freundschaften zu reaktivieren, so dass man gar keine neuen braucht.
Eine Sache, die relativ gut klappt, zumindest weiß man das aus Untersuchungen, ist gemeinsame Freiwilligenarbeit. Das sind so Momente, wo man ähnliche Leute trifft, mit ähnlichen Interessen. Man muss Momente schaffen, wo man miteinander in Kontakt kommen kann und eine intensive Zeit miteinander erleben kann. Aber das ist nicht so einfach.
Das Zweite wäre, glaube ich, dass man seine Beziehungsansprüche relativieren muss. Das, was wir ganz am Anfang besprochen haben, dieser Idealtypus „Freunde sind immer zuverlässig, Freunde sind immer…“. Wenn man das alles zusammenzählt, kann man das gar nicht erfüllen. Ich finde, man kann auch mit Menschen in engeren Kontakt kommen und Freundschaften aufbauen, die immer eine Viertelstunde zu spät kommen. Obwohl man ein genauer Typ ist. Das ist natürlich nicht einfach. Das heißt auch, dass ich an mir arbeiten muss, an meinen Ansprüchen, die ich an andere, an die Beziehung stelle. Dass ich da offener werde. Weil ohne diese Offenheit wird es schwierig. Wenn ich das genauso haben will, wie ich mir das vorstelle, dann wird es tatsächlich schwierig.
Es gibt ja auch kulturell geprägte Verständnisse davon, was Freundschaft bedeutet und was Freundschaft nicht bedeutet. Wo unterscheidet sich denn zum Beispiel das Verständnis von Freundschaft, das wir Deutsche haben, von dem anderer Kulturkreise? Das kann ja schon auch mitten in Europa sein, oder?
Wo man es am besten sieht, ist zum Beispiel Körperlichkeit. Also wie gehen befreundete Männer mit Körperlichkeit um? Da kann man sehen, dass das in südeuropäischen oder afrikanischen Ländern deutlich anders ist. Da kann man befreundet sein und Hand in Hand gehen. Das würde bei uns automatisch Partnerschaft bedeuten. Da gibt es große Unterschiede.
Es ist ganz wichtig, dass Sie das ansprechen. Man muss wirklich vorsichtig sein, wenn es wieder amerikanische oder australische Untersuchungen zu dem Thema gibt. Die haben im Grunde nichts mit unseren Freundschaftsbeziehungen zu tun und wie wir Freundschaften gestalten. Ich kann dazu eine kleine Anekdote aus der Schweiz erzählen. Ich habe deutsche Wurzeln und lebe jetzt schon seit 16 Jahren in der Schweiz. Und da gibt es den Begriff des Kollegen.
Der Arbeitskollege.
Nein, eben nicht. Der Arbeitskollege ist der deutsche Begriff. Der Kollege ist in der Schweiz eigentlich der Kumpel. Der Kollege ist genauer an der Vorstufe zur Freundschaft. Das muss man erst mal verstehen. Selbst im deutschen Sprachraum gibt es da schon Unterschiede, die auf unterschiedliche kulturelle Kontexte verweisen.
Okay, da kann man schon zwischen Deutschen und Schweizern ins Fettnäpfchen treten, wenn man die Begriffe nicht entschlüsseln kann.
Genau.
Letzte Frage: Welchen einen Tipp würden Sie einem Mann geben, der sich nach mehr und besseren Freundschaften sehnt?
Ich würde sagen, auch wenn ich mich da wiederhole, an den Vorstellungen, die man an Freunde und Freundschaften stellt, zu arbeiten, und offen auf andere zuzugehen und sie einzuladen, gemeinsam Dinge zu unternehmen, etwas zu machen. Auch diese Idee aufzunehmen, dass man was gemeinsam unternehmen muss. Selbst, wenn einen fünf Leute schräg anschauen, beim sechsten klappt es und dafür lohnt es sich.
Titelfoto von Erika Giraud auf Unsplash

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Mehr als Kumpels: Männer-freundschaften in der zweiten Lebenshälfte
Wahre Liebe mag selten sein, wahre Freundschaft ist noch seltener. Das soll Albert Einstein mal gesagt haben. Und dieses seltene Phänomen nehmen wir in dieser Episode mal genauer unter die Lupe. Mein Gesprächspartner ist Steve Stiehler. Er ist Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule St. Gallen in der Schweiz. Und er hat sogar über Freundschaften promoviert. Titel seiner Doktorarbeit war: „Männerfreundschaften – eine vernachlässigte Ressource“.
Interessante Links:
Prof. Dr. Steve Stiehler im Netz: https://www.ost.ch/de/person/steve-stiehler-86