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Witwer in der Lebensmitte: Wenn die Partnerin viel zu früh stirbt

Paare in der Lebensmitte starten oft nochmal neu durch. Wenn die Kinder ausgezogen sind und der Job routiniert von der Hand geht, bleibt Freiraum für gemeinsame Unternehmungen, Reisen und Hobbies. Nicht so für Thomas Rogalla. Seine Frau erkrankt an Brustkrebs. Es beginnt ein jahrelanges Ringen um die richtige Therapie, offene Kommunikation zu den Kindern und Momente der Leichtigkeit. Am Ende verliert er seine Frau dennoch an den Krebs. Im Gespräch mit Joachim Zdzieblo zeigt der junge Witwer, wie er aus dieser Krise herausfand und warum er heute glücklich und dankbar ist. Eine hoffnungsvolle Unterhaltung über Wachstum durch Krisen.

Wie haben Sie und Ihre Frau sich eigentlich kennengelernt? Jedem Anfang, vor allem einer Liebesbeziehung, wohnt bekanntlich ein Zauber inne.

Ich bin neben meinen vielen unternehmerischen Tätigkeiten auch ein bisschen musikalisch unterwegs. Ich bin nebenberuflicher Kirchenmusiker und habe als solcher auch ein Instrument zu Hause. Der Klavierbauer hat mich in sein Studio eingeladen, in eine Klavierscheune, und da habe ich eine junge Frau kennengelernt. Ja und dann hat sich das so ergeben.

Das heißt, sie hat bei dem Klavierbauer gearbeitet und war auch sehr musikalisch.

Sie selber spielte nicht Klavier, aber sie fand es sehr schön, wenn ich für sie gespielt habe. Das kommt einem ja dann als Mann auch sehr entgegen.

Absolut! Wie alt waren Sie damals, Sie und Ihre Frau?

Da muss ich doch tatsächlich mal rechnen… Ich war 24 und meine Frau war sieben Jahre älter als ich. Sie kam aus einer Ehe, war also geschieden und hat eine Tochter mit eingebracht. Das war für mich als 24-Jähriger aber gar kein Problem, sondern eher interessant und eine Bereicherung.

Sie haben ja gemeinsam auch noch eine Tochter bekommen und waren dann zu viert.

Das ging relativ schnell. Ein Jahr später ist unser leibliches Kind auf die Welt gekommen. Und dann waren wir zu viert und es begann die typische Achterbahnfahrt einer jungen Ehe.

Ja, das ist schon ein Unterschied, ob man zu zweit oder zu dritt oder zu viert unterwegs ist… Was haben Sie an Ihrer Frau besonders geliebt?

Sie hatte genau wie ich eine große Neugier auf das Leben und auf viele Dinge. Wir haben viele Konzerte besucht und sind gerne ins Kino gegangen. Wir haben uns durch die verschiedenen Restaurants gegessen. Wir liebten die Natur und hatten beide ein Faible für Hunde.

Es ist manchmal ganz schwierig oder gar nicht so einfach zu sagen, was denn so gemeinsam schwingt. Das kann man, glaube ich, am Ende nur fühlen. Es gibt ja, Menschen, die sagen: Gegensätze ziehen sich an. Und andere sagen: Es muss aber auch eine große Basis an Gleichklang sein. Ich glaube, es ist eine gute Mischung von beidem.

Und gibt es irgendwelche Eigenschaften von Ihnen, über die Ihre Frau gesagt hat: Mensch, die liebe ich besonders an Dir!?

Sie fand meine Klarheit, glaube ich, gut. Dass ich mit meinen Gefühlen nicht hinterm Berg gehalten habe, auch mit meinen Sorgen, obwohl ich Sorgen damals eigentlich gar nicht kannte. Ich war sehr selbstbewusst. Ich glaube, mein Selbstbewusstsein fand sie auch sehr gut. Die Musikalität fand sie auch gut und meine Energie, die ich zugegebenermaßen damals noch hatte.

Sie wirken immer noch sehr energiegeladen.

Vielleicht kommt die ja wieder zurück.

Was haben Sie an Ihrer Frau besonders geliebt?

Sie hat Wärme ausgestrahlt und Großherzigkeit. Sie war ein bisschen mütterlich, nicht nur den Kindern gegenüber, sondern sie hat sozusagen ein sehr schönes Heim geschaffen. Das soll jetzt gar nicht so spießig klingen, so als wäre sie ein Heimchen gewesen, aber es war immer eine warme, schöne Atmosphäre in ihrer Nähe. Und sie hatte eben viele Interessen. Der Gesprächsstoff ging nie aus. Ich glaube, das ist doch einer der wichtigen Eigenschaften, dass man immer etwas zu bereden hat und nicht ins Schweigen kommt. Also mal miteinander schweigen, kann ja auch sehr beredt sein, aber es war eigentlich immer im Fluss.

Ich habe vor kurzem mit einem Mann in einem Interview über die Frage gesprochen, wie lang ein Mann durchschnittlich mit seiner Frau redet. Dazu gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass das maximal zehn Minuten am Tag sind. Das scheint bei Ihnen anders gewesen zu sein, und das zeichnet ja dann auch so eine Beziehung besonders aus, wenn einem der Gesprächsstoff nie ausgeht und man sich immer mitzuteilen hat – über das Wesentliche, aber auch über das, was am Tag so ablief.

Wenn man Kinder hat – ein sehr kleines und ein kleines – dann ist der Gesprächsstoff schon dadurch festgelegt. Aber es war auch immer ein Interesse dafür da, was wir am Tag so erlebt haben. Ich war damals sehr jung und schon selbstständig und war getrieben davon, Geld verdienen zu müssen.

Man muss ganz klar sagen: Das ist als Selbständiger nicht immer nur große Freiheit, sondern auch große Pflicht und große Verantwortung. Und da erlebt man natürlich viel. Ich bin sehr viel Auto und Bahn gefahren, bestimmt 80.000 bis 90.0000 Kilometer im Jahr. Und eine der sehr schönen Eigenschaften meiner Frau war, dass sie mir das Gefühl gegeben hat, sie wäre mit dabei gewesen. Es gibt in einem Lieblingsfilm von mir – Forrest Gump – eine schöne Stelle, wo Tom Hanks am Bett seiner sterbenden großen Liebe sitzt und sagt: Ich hätte es so schön gefunden, wenn Du dabei gewesen wärst. Und sie sagt: Ich war immer dabei. Und dieses Gefühl, wenn man das in einer Partnerschaft erlebt, ist, glaube ich, ein ganz großes.

Absolut, ja! Das klingt wirklich sehr toll. Sie haben ein ganz normales Ehe- und Familienleben geführt, in Hamburg mit zwei Kindern. Wie andere Familien auch in Deutschland. Und dann brach eines Tages in dieses intakte Familienleben die Diagnose Brustkrebs herein. Wann war das und wie haben Sie davon erfahren?

Das war vor zehn, elf Jahren. Wie so häufig hatte meine Frau ein komisches Gefühl: Sie fühlte sich schwächer und irgendwie abwesender, also nicht so präsent. Und dann ist es bei einer Vorsorgeuntersuchung herausgekommen.

Wer mit Krebs zu tun hat, weiß, dass man dann relativ schnell in einen vorgefertigten Rhythmus, ich will nicht sagen, in eine Standardisierung kommt. Es geht eine Maschinerie los mit Untersuchungen verschiedentlicher Art, und das war für sie, glaube ich, ein Rieseneinschnitt, wie für jeden Betroffenen. Eine Existenzbedrohung, die man in seiner Gänze als Nichtbetroffener, glaube ich, nur ahnen kann.

Das Traurige war, dass sie vieles dann mit sich selbst abgemacht hat. Und das ist eigentlich auch das Drama an dieser Geschichte, mal abgesehen davon, dass das Ende vorhersehbar ist: Ich bin heute Witwer. Dass die Verbindung in den Jahren – bis auf eine kleine, wundersame Verbesserung, auf die ich noch zu sprechen komme – plötzlich abbrach. Meine Frau hat sich zurückgezogen, hat vieles mit sich selbst oder ihren Freundinnen abgemacht und hat sich vielleicht von ihren Ängsten tragen lassen und total zurückgezogen. Und das ist ein blödes Gefühl.

Die Kinder wurden auch nicht mit einbezogen. Die waren ja zu dem Zeitpunkt durchaus in einem Alter, wo man mit ihnen über Krankheit hätte reden können, zumindest mit der großen. Aber da war ein Rückzug, eine innere Immigration zu sehen, die für mich sehr, sehr schwer war. Die war fast schwerer als die Diagnose.

Auf dieses schwierige Thema der Verarbeitung und die Interaktion zwischen Ihnen und Ihrer Frau, gehen wir noch ein. Ich möchte nur kurz zurückspulen in das Leben, als Sie die Diagnose erfahren haben. Was war ihre erste innere Reaktion? Haben Sie sich psychisch fit genug gefühlt zu sagen: Da stehe ich meiner Frau bei? Oder kam schnell ein Gefühl der Überforderung auf, nach dem Motto: Oh Gott, was kommt da jetzt auf uns zu?

Ich komme aus einer Familie, in der auch einige Mediziner sind. Ich will jetzt nicht sagen, dass wir schulmedizingläubig sind, aber wir sind schon so geprägt: Wenn man ein Problem hat, dann geht man zum Arzt und dann bekommt man eine Diagnose und ein Rezept im übertragenen Sinne, also eine Anleitung, wie man mit dieser Krankheit umgeht und wie man sie lindert oder sogar heilt.

Der Weg zum Schulmediziner war meiner Frau aus Gründen, die bis heute ein Rätsel sind, versperrt. Es gab zwei Gespräche, bei denen ich auch dabei war. Die wurden, das muss man sagen, auch wirklich ausgesprochen unempathisch und sehr sachlich, um nicht zu sagen geradezu kalt geführt, was möglicherweise die Offenheit für eine schulmedizinische Behandlung minimiert hat und einen noch stärkeren Rückzug auf eine für Außenstehende sehr merkwürdige Position nach sich gezogen hat.

Ihre Frau hat sich dann auch entschieden, sich nicht behandeln zu lassen und das über mehrere Jahre. Jetzt weiß man ja, dass Brustkrebs in der Regel eine gut zu behandelnde Krebsart ist, aber man muss sich halt eben auch behandeln lassen. Was hat die Weigerung Ihrer Frau, sich behandeln zu lassen, in Ihnen ausgelöst?

Das war in der Tat rückblickend die schwierigere Sache: Zuzugucken, wie ein Mensch die Hilfereichungen, die es durchaus gab, alle ausschlägt und sogar das Gespräch darüber verweigert. Das war für mich die schwierigste Situation. Eine schwer zu beschreibende tiefe Verletzung und Hilflosigkeit. Hilflosigkeit ist, glaube ich, das Schlimmste. Zuzugucken, wie jemand seinen Zustand verschlechtert und, ich will jetzt nicht sagen, verfällt. Das kam zu einem späteren Zeitpunkt. Aber zu sehen, wie es abwärtsgeht, man nicht darüber reden kann und den Zustand dann noch den Kindern verheimlichen sollte. Das war für mich noch viel schlimmer.

Es gab immer die Begründung: „Es ist mein Körper und meine Entscheidung.“ Und wenn Sie das so hören und in einer Partnerschaft drin sind, sind Sie in einem ganz großen Zwiespalt und der ist nicht lösbar. Wenn der Partner sagt: „Das ist mein Körper und meine Behandlung und mein Leben. Das geht Dich nichts an!“ Ein Teil davon ist verständlich, aber ein großer Teil eben auch nicht. Denn es hängt ja auch eine Familie daran.

Ich habe erst durch die Verarbeitung nach dem Tod meiner Frau darüber nachgedacht, dass in dieser Weigerung, zu reden, auch eine Unfairness liegt, die ich damals gespürt habe. Heute weiß ich, dass mit der Weigerung, sich auszutauschen und offen über Ängste zu reden, eine große Unfairness gegenüber den sonstigen Beteiligten in dem System, nämlich den Kindern und dem Partner gegenüber, liegt.

Und Sie sagten ja auch schon, dass Ihre Kinder nicht so klein waren, als dass man es ihnen nicht hätte erzählen können. Ich stelle mir das so vor, dass, wenn Sie Ihre Frau angesprochen haben, sie sofort abgeblockt hat und Ihnen einen Maulkorb verhängt hat, nicht mit den Kindern zu sprechen. Aber irgendwo muss man sich ja austauschen und etwas loswerden. Wie haben Sie das damals gelöst? Hatten Sie einen guten Freund, zu dem Sie hingehen und dem Sie Ihr Herz ausschütten konnten oder, im übertragenen Sinn, vor die Füße kotzen konnten?

In der Tat gab es mehrere Stadien der Verzweiflung. Im ersten Stadium ist man schlaflos, rennt etwas hirnlos durch die Gegend und weißt nicht so recht, mit sich anzufangen. Es beginnt dann in den Beruf auszustrahlen. Man ist unkonzentriert und abgelenkt.

Ich glaube, wir Männer neigen eher dazu, lösungsorientiert zu sein. Frauen möchten ja viel über die Probleme reden und Männer gerne die Probleme lösen. Ich wollte aber beides: Ich wollte a) mal vernünftig darüber reden und b) natürlich auch eine Lösung oder eine Hilfestellung leisten.

Ich hatte immer schon zwei gute Freunde, mit denen ich seit langer Zeit zusammen bin. Ich habe durch diese Krankheit noch einen zusätzlichen Freund gewonnen, von dem ich vorher nicht wusste, dass auch er eine schwere Zeit durchgemacht hat. Seine Frau war depressiv, und das hat dann auch zur Scheidung geführt. Der ist also auch durch eine schwere Mühle gelaufen und hat mir sehr geholfen.

Und ich habe eine Tante, die Gynäkologin im Ruhestand ist, und natürlich viel mit Krebs zu tun hatte. Und die hat – und das kann ich nur jedem empfehlen – mit einer großen Direktheit und Unverblümtheit mir sehr früh weh-, aber auch gutgetan. Sie hat nämlich gesagt: „Das geht nicht gut aus.“ Sie hat sehr früh gesagt: „Thomas, jeder Mensch hat das Recht auf den eigenen Untergang.“

Dieser Satz war für mich unerhört. Ich war richtig sauer auf sie und habe bestimmt ein Vierteljahr nicht mit ihr geredet. Sie hat auch gesagt, ich solle mir keine Illusionen machen. Ich kann bei ihr bleiben, ich kann ihr helfen, die Situation anzunehmen, was riesig schwer war. Also jemanden, der wissentlich sozusagen in den Abgrund geht, freundlich zu begleiten, ist, glaube ich, eine Aufgabe, für die man sehr groß gewachsen sein muss.

Und sie hat mir in jedem Gespräch auch vermittelt: „Es kann ja sein, dass sie noch mal umdenkt. Verliere die Hoffnung nicht. Aber sei dir bewusst: Das Schlimmste wird wohl sein, dass sie stirbt.“ Das hat sie in einem sehr frühen Stadium gesagt, etwa zwei Jahre nach der Diagnose, wo der Primärkrebs noch nicht so groß war und auch noch keine Metastasen entwickelt hatte. Sie hat gesagt, dass es aus der Erfahrung und aus den Leitlinien der krebsbehandelnden Ärzte keine oder nur ganz wenig Fälle gibt, bei denen sich ein Brustkrebs von selber, ohne dass man etwas dagegen tut, wieder zurückentwickelt.

Und ich soll mir darüber im Klaren sein, dass das irgendwann zu Weiterungen und am Ende zum Tod führt. Und das wollte ich damals wirklich nicht hören. Ich wollte ja von ihr hören: „Ich rede mal mit Deiner Frau und vielleicht kann ich sie ja überzeugen.“ Sie hat sehr früh gesagt, das wird ihr nicht gelingen. Das hat sie auch schon in ihrer Praxis erlebt. Das gibt es sehr, sehr selten, dass Menschen – aus welchen Gründen auch immer – so starr in ihrer Meinung sind, dass sie sich davon nicht abbringen lassen. Und das ist eine Herausforderung für einen Begleiter, für einen Partner, für einen Ehemann. Aber man verschleißt sich, wenn man jeden Tag sich daran abarbeitet, ihn immer wieder versucht, umzustimmen.

Und damit hatte sie recht, aber das wollte ich alles nicht hören. Insofern war das für mich zu dem Zeitpunkt eher noch ein Nackenschlag. Aus heutiger Sicht muss ich sagen: Es war richtig und wahr.

Sie wurden früh mit dieser unangenehmen Wahrheit konfrontiert und – klar – in der Rückschau sieht man dann: Sie hatte recht. Nach Jahren der Nichtbehandlung tauchten dann in der Leber Metastasen auf. Wie ging es ab da weiter?

Ja. Man muss dazu sagen, dass sie nach drei Jahren tatsächlich den Primärherd hat operieren lassen. Also man hat ihn herausgeschnitten, um es salopp zu sagen. Nach der Operation haben ihr die Ärzte gut zugeredet und ihr gesagt, dass die Lebenschancen steigen, wenn man sich bestrahlen lässt oder eine Chemo macht. Je nach Tumortyp gibt es dafür Leitlinien. Da verfiel sie dann wieder in ihr altes Muster, nach dem Motto „Nun ist ja der Primärherd weg und den Rest schaffe ich alleine.“

Sie hat dann viele Bücher gekauft und ihre Ernährung umgestellt. Alles Dinge, die für sich genommen richtig sind. Wenn ich mir das heute rückblickend angucke, hat sie sich die Literatur und die Gesprächspartner gesucht, die sie in ihrer Meinung bestärkt haben, dass man das selber in den Griff kriegen kann.

Alternativmedizin.

Alternativmedizin. Auch dagegen ist überhaupt nichts zu sagen. Sie war ja Homöopathin und selber Heilpraktikerin. Und ich glaube, Sie finden unter den guten Schulmedizinern eine ganze Menge Mediziner, die sagen, dass das eine hervorragende Ergänzung ist. Aber, um es mal ganz krass zu sagen, und das ist jetzt auch nur meine Meinung, für die man mich prügeln kann: Ich glaube, dass man Krebs nicht alleine durch Alternativmedizin heilen kann. Das ist meine Meinung, die sich jetzt leider auch bestätigt hat.

Aber meine Frau hat viel für die Umstände getan, dass es ihr einigermaßen gut ging. Also sie hat auf Zucker verzichtet und auf Fleisch und all diese Dinge. Aber es hat alles nichts genutzt. Sie haben es schon erwähnt. Sie war zu einer weiteren Routineuntersuchung bei einer Ärztin, die wieder ein typisches Beispiel für ein ärztliches Verhalten abgab. Sie hat einen Ultraschall gemacht, wurde weiß, hat gesagt, sie müsse mal eben rausgehen, kam wieder rein und sagte: „Ich habe Ihnen einen Termin im MRT gemacht. Sie haben da irgendwas, was da nicht hingehört.“ Das finde ich vom Verhalten her auch nicht so wahnsinnig empathisch.

Und da hat sich erwiesen, dass sie Lebermetastasen hat und zwar auch nicht wenige und schon relativ weit fortgeschritten. Man hat ihr wieder in einem Nachgespräch empfohlen, eine Therapie zu machen. Die Leber ist ein Organ, das sich sehr gut regenerieren kann. Man kann also operieren und mit adjuvanten Mitteln später die Leber auch wieder ganz gut regenerieren. Das wollte sie nicht.

Und nun nehme ich den absoluten Höhepunkt vorweg: Sie hat Wasser im Bauch bekommen, Aszitis ist die Bezeichnung dafür, und zwar so viel, dass es sich auch nicht mehr verbergen ließ. Da hat dann auch die große Tochter sie angesprochen und gesagt: „Also Mama, entweder bist Du schwanger oder Du hast wirklich ein großes Problem.“ Selbst da wurde noch geleugnet. Einen Tag später wurde dann die Wahrheit unter Tränen dann doch gebeichtet. Sie hat dann in meiner Abwesenheit im Jahr 2018 an einem Tag, an dem ich morgens ins Büro gefahren bin, sich selber in ein Krankenhaus eingeliefert.

Sie hat mich von dort anrufen lassen von jemanden anders, weil sie sich selber nicht traute, mir das zu beichten, warum auch immer. Der behandelnde Arzt hat mir dann gesagt: „Wenn Sie mich hören wollen: Meine Prognose ist drei bis vier Monate.“

Jetzt kommen wir allerdings auch noch zu einem Wunder. Sie ist empfohlen worden in eine palliative Behandlung zuhause. Man muss sagen, sie hasste Krankenhäuser, was man nun wirklich auch niemandem verdenken kann. Dieses Krankenhaus hat auch alles dafür getan, alle Negativbeispiele zu bestätigen. Das kleine Wunder bestand darin, dass sie in der heimischen Atmosphäre einen Palliativarzt bekommen hat, der übrigens bis heute mein Freund ist. Und der hat mit ihr tatsächlich über Behandlungen geredet in einer Art und Weise, die innerhalb von einer Stunde dazu geführt hat, dass sie gesagt hat: „Ach ja, dann mache ich doch mal eine Chemo.“

Unglaublich!

Also alles, was wir – Familie, Ärzte in der Familie, Bekannte, Schulmediziner, die sie zu Rat gezogen hat – fünfeinhalb Jahre versucht haben, hat nichts bewirkt. Dieser eine Mensch hat es geschafft, ihr zu empfehlen, in eine Spezialklinik zu gehen und eine Chemo zu beginnen. Und jetzt kommt das weitere Wunder: Diese Chemo hat nach der vierten Anwendung, also in der vierten Woche, begonnen zu ziehen. Die Metastasen wurden kleiner, der Gesamtzustand wurde besser, das Wasser blieb weg, und sie hat Gewicht zugenommen.

Und dann haben wir tatsächlich in diesen anderthalb Jahren, wo sie noch mal einen Aufschwung hatte, noch ganz viel reden können. Das ist für mich eine ganz große, tolle Erfahrung gewesen. Sie hat indirekt auch zugegeben, dass sie nicht so genau weiß, was sie geritten hat, uns alle wegzubeißen und die Familie aus dem Kreis zu verbannen. Wir haben, natürlich mit ein paar kleinen gesundheitlichen Einschränkungen, trotzdem noch fünf schöne Urlaube machen können und eine Nähe wiedergefunden, die in den fünf Jahren komplett weg war, und die auch vieles geheilt hat.

Das klingt wie ein Honeymoon. Erst die totale Verzweiflung und auf einmal kommt eine Einsicht. Schön, dass es diesen Arzt und Ihren jetzigen Freund gegeben hat, der anscheinend auf der richtigen Wellenlänge zu Ihrer Frau gefunkt hat, und es geschafft hat, sie davon zu überzeugen. Es ist toll, dass Sie dann noch mal diese Nähe bekommen haben und einfach noch mal reden konnten.

Ich würde fast sagen: Diese Nähe war intensiver als in der Zeit der zehn Jahre vor der Erkrankung. Ich war völlig perplex, mit welcher Klarheit und Offenheit und Liebe wir miteinander sprechen konnten. Ich glaube, es hat auch damit zu tun, dass sie sich durch diese Chemotherapie das erste Mal in die Hände von Schulmedizinern begeben hat und gesehen hat, dass es ihr hilft. Und sie konnte sich auch in meine Hände begeben. Ich habe sehr viel übernommen, auch vorher schon im Haushalt, und habe mein Leben umgestellt. Und sie hat sich tatsächlich komplett in meine Hände begeben, und das ist dann auch ein schönes Gefühl. Das kann ich nur jedem empfehlen, das einmal im Leben zu spüren, was es bedeutet, wenn jemand sich wirklich komplett öffnet und fallen lässt.

Thomas Rogalla (Foto: privat)
Das ist eigentlich das ideale Bild von einer Partnerschaft, von einer Ehe, in der man sich einander anvertraut und das auch in ganz schwierigen Zeiten. Sie haben gerade erwähnt, dass Sie auch Ihr Leben umgestellt haben. Vielleicht kommen wir mal auf Ihre Arbeitssituation zu sprechen. Sie sind ja Unternehmensberater und Interims-Manager. Das sind jetzt keine Nine-to-five-Jobs, sondern zeitintensive Tätigkeiten. Wie konnten Sie die Pflege Ihrer Frau mit Ihrer Arbeit vereinbaren?

Das können wir in zwei Phasen unterteilen: in eine, in der ich den Umstand einer kranken Frau zuhause, nicht erzählt habe, sondern es versucht habe, zu verbergen. Das war für mich kräftezehrend. Ich bin aus der Haustür gegangen, habe mich ins Auto oder in den Zug gesetzt und hatte schon in der Sekunde ein schlechtes Gewissen und habe mir ausgemalt, was zuhause alles passiert. Dass sie hinfällt, dass sie sich erbricht, dass sie keine Ahnung was macht, also dass etwas Schlimmes passiert. Ich habe dann die Termine oder den Termin absolviert.

Ich kann Ihnen sagen, dass mein Büro in eine Effizienz getrimmt wurde, die bis heute maßstabsetzend ist. Ich habe es geschafft, alle bürokratischen Tätigkeiten in 30 Minuten zu erledigen, inklusive Steuererklärung, Rechnungen schreiben, Zahlungseingänge und -ausgänge, also in einem unglaublichen Tempo, weil ich ja getrieben war, wieder nach Hause zu müssen.

Ich habe dann, als es nicht mehr ging, als dieser Zustand so war, dass ich das Haus nicht mehr verlassen konnte, außer mit dem Hund zweimal am Tag 20 Minuten zu gehen, mit meinen Mandanten gesprochen. Ich muss dazu sagen, ich habe nur sieben Mandanten, die aber schon sehr lange und habe auch keine neuen Mandate mehr angenommen. Ich habe ihnen die Situation geschildert und habe ein so großes Entgegenkommen und ein so großes Verständnis widergespiegelt bekommen, dass es mich zu Tränen gerührt hat. Die haben alle gesagt: „Sie arbeiten dann, wenn Sie es können. Und ob das nun nachts oder morgens oder in der Mittagspause ist, ist uns völlig egal. Unsere Firmen werden jetzt nicht draufgehen, wenn Sie mal eine Woche nicht da sind. Aber wir halten an Ihnen fest, wir stehen hinter Ihnen.“

Und von den sieben Mandanten haben sechs gesagt, dass sie die Situation kennen. Sie haben gesagt, dass sie dasselbe oder das gleiche aber in einer anderen Konstellation haben. Einer hatte zwei Eltern zu pflegen und hetzte vom Büro in das Haus seines Vaters, der bettlägerig war. Einer hat eine behinderte Schwester. Also ich habe dort Dinge erfahren und auch eine partnerschaftliche Nähe zu meinen Klienten entwickelt, die ich nicht erahnt habe. Deshalb hat man ja auch eine Hemmschwelle, alles zu erzählen. Die Hemmschwelle ist total weg.

Der Aufschwung zwischen 2018 und 2020 war zwar sensationell, aber er endete eben doch mit dem Tod, weil die begleitende Chemotherapie am Ende auch den Rest der Leber zerstört hat. Als Arzt muss man immer abwägen, wie viel man den Gesamtzustand verbessern kann und wie viel man dem Körper schadet. Denn – machen wir uns nichts vor – eine Chemotherapie ist jetzt nichts, was den Körper verbessert. Die Sterbephase kündigte sich Anfang 2020 an und hat, Gott sei Dank, nur fünf Tage gedauert. Da habe ich meinen Mandanten per E-Mail mitgeteilt: Ich tauche jetzt ab. Ich habe dann sehr viele gute Wünsche bekommen und quasi eine absolute Narrenfreiheit und konnte mich dann total auf den Prozess der Begleitung meiner Frau konzentrieren.

Waren Sie in den letzten Stunden bei Ihrer Frau?

Ja. Es war auch noch ganz dramatisch.

Ich kann nur jedem raten: Sprechen Sie mit jemandem, der sich auskennt. Das gilt grundsätzlich für alles, vom Handwerk bis zur Steuererklärung, aber auch – und das meine ich gar nicht zynisch – was das Sterben angeht.

Dieser heutige Freund und damalige Palliativarzt, der zehn Jahre älter ist als ich, hat in seinen 40 Jahren viele Menschen in den Tod begleitet und hat mir ganz viel Angst vor dem Sterben genommen. Er hat mir die organischen Prozesse beschrieben. Er hat auch wie ich eine christliche Weltanschauung, dass mit dem Tod hier auf der Erde etwas vorbei ist, aber was danach kommt, wissen wir nicht. Es könnte ja etwas Besseres sein. Er hat mir von Forschungen berichtet, die er selber begleitet hat, mit Menschen, die eine Nahtoderfahrung gehabt haben und davon berichteten, dass das nichts Furchtbares ist und keine Flammen, Lärm und Krieg im Hintergrund sind, sondern dass das immer schöne Erfahrungen waren mit Licht und Wärme.

Und er hat mir gesagt, was auch wichtig für mich war, dass sein Palliativdienst 24 Stunden erreichbar ist. Wann immer ich das Gefühl habe, ich kann nicht mehr, soll ich ihn anrufen und dann kommen zwei Leute und übernehmen ab dem Zeitpunkt eine 24-Stunden-Wache. Das hat mich sehr entlastet. Es kam einmal am Tag jemand für die Grunddinge, aber ich habe tatsächlich die letzten fünf Tage zu Hause verbracht und auch die letzte Nacht.

Der Arzt ist jeden Tag da gewesen und hat mir sehr genau anhand der Organfunktionen sagen können: „Thomas, jetzt rechne mal noch mit einer Woche.“ Und später: „Ich würde sagen, es handelt sich jetzt um Stunden.“ So war es dann für mich nicht der plötzliche Tod, sondern er war mit Ansage. Ich konnte meine Kinder noch anrufen, dass sie kommen. Die Große wohnte zu dem Zeitpunkt in Leipzig, hat selber ein kleines Kind und ihr Mann studierte zu dieser Zeit. Also sie wohnten nicht um die Ecke. Ich konnte sie abends anrufen, sodass sie in der Nacht noch gekommen sind. Sie haben dann gemeinsam mit mir die letzten Stunden erlebt.

Meine Frau ist dann in dem einzigen Moment verstorben, in dem keiner im Zimmer war. Auch das wurde mir prophezeit, dass Menschen sehr gerne gehen, wenn keiner dabei ist und nicht, wenn alle um einen herumstehen. Ich hatte also bei all den Rahmenerscheinungen und all der Trauer einen sehr friedlichen, überhaupt nicht beängstigenden Abschied.

Und auch Ihre Töchter, was ja auch wichtig ist, dass sie sehen, dass das friedlich abging.

Ja!

Was Sie gerade gesagt haben, das habe ich auch schon öfters gehört: Dass eben Sterbende den Moment abpassen, wo sie dann einfach loslassen können. Das ist für viele auch ein intimer Moment. Wie ging es Ihnen in den ersten Tagen nach dem Tod Ihrer Frau? Wie war Ihre Gefühlswelt?

Also, Herr Zdzieblo, ich habe noch mal in meinem Tagebuch nachgeguckt. Es war eine Melange aus verschiedenen Gefühlen: Eine große Erleichterung, dass sie es jetzt geschafft hat, aber auch ganz egoistisch, dass es jetzt vorbei ist. Gleichzeitig eine Mischung aus irrsinniger Erschöpfung, aber auch einer kribbelnden Unruhe. Und das hat sich in der darauffolgenden Nacht gelegt. Da hilft dann tatsächlich auch mal ein Glas Rotwein. In der Nacht darauf habe ich das erste Mal 15 Stunden am Stück geschlafen.

Und dann wacht man morgens auf und bekommt noch mal einen Schreck: „Sie ist ja nicht mehr da.“ In den nächsten Tagen war ich in Beerdigungsdingen eingebunden. Meine Kinder sind dageblieben, was sehr schön war. Sie haben sich alle freigenommen, und dann haben wir eine Woche ein Trauerhaus gehabt. Das war eine wunderbare Erfahrung. Wir haben Tag und Nacht geredet, Bilder herausgesucht, Erinnerungen Revue passieren lassen, ein Meer von Kerzen angemacht und das Haus mit Salbeisträuchern ausgeräuchert. Es war sehr heilsam.

Manchmal lässt man ja den Leichnam ein, zwei Tage im Haus, damit Leute vorbeikommen können. Aber Ihre Frau war schon nicht mehr bei Ihnen, oder?

Ja.

Jetzt ist die Erfahrung nicht selten so, dass sich Freunde und Verwandte rührend um einen kümmern in den ersten Tagen nach dem Tod und bis zur Beerdigung. Aber nach der Beerdigung flaut diese Welle urplötzlich ab und man ist mit seiner Trauer allein. Wie war das bei Ihnen?

Zum einen bin ich ein Mensch, der viel mit sich selber abmacht. Das unterscheidet mich möglicherweise von anderen. Ich bin jemand, der sich dem Trauern auch hingibt. Ich habe als Ergebnis eine Eigenschaft entwickelt, die ich, etwas zynisch oder sarkastisch, unmännlich nenne: Ich bin mittlerweile sehr dicht am Wasser gebaut. Also ich gucke rührende Tierfilme im Fernsehen und kriege Tränen in den Augen. Bitte verraten Sie das nicht weiter. Vielleicht müssen wir das später herausschneiden.

Ich habe Bäche geweint – eine Eigenschaft, die ich vorher nicht hatte. Sogar auch vor Menschen, also vor meinen Kindern, vor meinen Freunden, habe ich urplötzlich losgeweint. Das ist eine Eigenschaft, die erst da begonnen hat. Ich war 50 zu dem Zeitpunkt, und das kannte ich nicht. Wenn ich früher geweint habe, wenn mich etwas gerührt hat… Ich weiß noch, „Die Farbe Lila“ war einer der wenigen Filme, der mich zu Tränen gerührt hat. Ich habe im Dunkeln schnell ein Taschentuch genommen und danach die Brille wieder aufgesetzt, bloß, dass es keiner sieht… also altes Männerbild.

So sind wir Männer.

Ja, natürlich. Immer hart und immer aufrecht und lassen sich durch nichts erweichen. Nein, diese Eigenschaft ist völlig weg. Ich erkläre mir das damit, wenn Sie den Tod so nahe um sich haben und die Endlichkeit des Seins vor Augen geführt bekommen, dann spielt alles andere keine Rolle. Ich kann Ihnen auch sagen, dass mein Verhältnis zu „Krisensituationen“ sich total geändert hat. Im Angesicht des Todes ist es völlig egal, ob eine Firma in die Insolvenz geht. Das sind alles materielle oder weltliche Dinge. Das klingt jetzt sehr hart, aber im Lichte des Lebens und des Todes verblassen die Wichtigkeiten von manchen Dingen. Nicht, dass ich meine Mandanten nicht mehr wichtig nehme, ganz und gar nicht, aber ich habe ein anderes Verhältnis zu vielen Dingen bekommen, die vorher wichtig waren.

Zurück zur Trauer: Ich muss dazu sagen, dass meine Frau am Valentinstag, am 14. Februar, gestorben ist. Der ist jetzt natürlich besetzt für den Rest des Lebens. Ich werde den Todestag auf zwei Arten nicht vergessen.

Und dann, Herr Zdzieblo, kam etwas Großartiges. Auch dafür könnte man jetzt jede Menge Leserbriefe bekommen. Da kam nämlich Corona.

… und der Lockdown.

Und der Lockdown. Für mich war das eine wunderbare Situation. Das Telefon war ruhig, niemand hat nach Präsenzbesuchen gefragt. Alle waren damit beschäftigt, sich Impftermine und Masken zu besorgen und sich auf ihre Rechner Teams, Zoom oder irgendwas für Videokonferenzen zu installieren.

Also niemand hat darüber nachgedacht, mal den Rogalla anzurufen, und ich habe natürlich auch nicht daran gedacht, jemanden anzurufen. Ich kann sagen: Für mich war Corona eine Art Zwangspause, die mir den Raum gegeben hat, den ich für mich brauchte. Ich habe es genossen, in den Tag hinein zu leben, die berühmte Jogginghose ganztägig zu tragen, mich aufs Sofa zu legen und zu weinen, wenn es mir danach war, laut Musik zu hören, Kerzen anzumachen oder auch in die Natur rauszugehen. Es war die große Freiheit.

Das, was viele in der Kindheit auf einem Campingplatz erleben – drei Wochen Sommerurlaub ohne jegliche Grenzen – das hatte ich während Corona. Ich wohne ländlich am Stadtrand. Ich konnte rausgehen, wann immer ich wollte. Niemand hat gesagt, dass das Haus nicht verlassen wird. Ich konnte also alles machen, was ich wollte. Ich habe einen großen Garten, der noch nie so top gepflegt wurde wie zu dieser Zeit. Gartenarbeit ist sehr hilfreich, kann ich Ihnen sagen. Also, ich habe den Lockdown von Corona genutzt, um meine Trauerarbeit zu leisten.

Aber das ist schon unglaublich. Der Corona-Lockdown hat bei vielen Menschen Gefühle der Isolation und Einsamkeit ausgelöst. Nicht wenige Alleinstehende haben eine Depression entwickelt. Und bei Ihnen war es genau andersrum. Wie erklären Sie sich das?

Ich kann das gar nicht erklären, Herr Zdzieblo. Ich muss Ihnen einfach sagen, ich habe das Gefühl gehabt, in einem sehr warmen, schönen Kokon eingebettet zu sein. Der Kamin war jeden Tag an. Ich habe mich einfach so wohlgefühlt und ich wollte auch nicht ständig über diese letzten sieben Jahre reden. Vielleicht ist das auch ein Teil der Erklärung. Ich wollte mit niemandem jetzt noch mal alles durchkauen. Meine Freunde und die Familie wussten ja, was gewesen ist.

Eine ganze Menge Trauerarbeit bewältigt man, glaube ich, auch in so einem Abschied auf Raten. Ich hatte schon seit 2013 immer das Gefühl: Du musst Dich mit dem Ende auseinandersetzen. Ich wollte mich einfach nur erholen.

Das ist verständlich. Sie haben gesagt, Sie kommen aus einem kirchlichen Umfeld. Ich weiß, dass sie Kirchenmusik studiert haben. Ihre Entwicklung hin zum Interimsmanagement wäre eine eigene Folge wert, das kriegen wir heute nicht unter. Sie kommen also aus einem kirchlichen Umfeld, sind selbst Christ. Hat Ihnen Ihr Glaube in der schweren Zeit geholfen?

Ja. Ich mache Kirchenmusik, gehe aber außerhalb meiner musikalischen Tätigkeit nicht ständig in die Kirche. Ich lebe, glaube ich, sehr christlich, indem ich bestimmte Werte vertrete und lebe und auch für sie einstehe. Mir hat das Gefühl geholfen, dass ich eingebettet bin in etwas, was einem Zyklus folgt. Natürlich ist der Tod für einen Mittfünfziger erst mal etwas Erschreckendes. Die Menschen, die mal einen Herzinfarkt gehabt haben, erzählen einem, was das für eine Erfahrung ist, plötzlich Angst zu haben, das Leben sei vorbei. Aber für mich war die Vorstellung tröstlich, eingebettet zu sein in einen großen Kosmos, zu dem ein Lebenszyklus dazugehört. Und damit ist es vielleicht etwas tröstlicher, damit umzugehen, dass das Leben meiner Frau mit 56 Jahren vorbei war. Ich habe mich damit getröstet, dass sie aber eben auch ihr Leben hatte. Da hilft, glaube ich, tatsächlich der veränderte Blickwinkel.

Sie haben gesagt, dass Sie viel mit sich selber ausmachen oder auch gut selber mit sich besprechen können. Haben Sie sich trotzdem Hilfe für die Trauerarbeit geholt?

Ja. Ich habe es auch meinen Kindern schon ab dem Jahr 2018 empfohlen, wo dieser berühmte Zusammenbruch war. Ich bin mit gutem Beispiel vorangegangen. Ich habe zwar keine klassische Therapie gemacht, aber ich habe eine Bekannte gehabt, die Gesprächstherapeutin war, zu der ich hinfahren konnte. Und die hat mich auch, was ich sehr wohltuend fand, überhaupt nicht in Watte gepackt, sondern mir schon im ersten Gespräch gesagt: „Thomas, setz dich doch mal damit auseinander, wie es ist, wenn sie nicht mehr da ist.“ Auch das zu meiner großen Überraschung mit einer deutlichen Klarheit. Ich glaube, dass viele Menschen mit einer klaren Haltung, sich mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen, besser fahren als mit der Einstellung: „Na ja, schauen wir mal. Das wird vielleicht schon wieder.“

Das Verdrängen, das geht sich nie aus, wie der Österreicher sagen würde. Das passt einfach nicht. Gibt es bestimmte Erinnerungen oder Momente, die Ihnen besonders wichtig sind, wenn Sie an Ihre verstorbene Frau denken?

Diese letzten anderthalb Jahre sind sehr präsent bei mir, weil sie eine große Nähe erzeugt haben, zwangsweise muss man sagen, durch die Fürsorge, die ich gelebt habe und die sie zugelassen hat. Es gab viele schöne Momente und nicht den einen. Wir haben uns auch oft, wie in jeder Ehe, nicht gut verstanden und haben in vielen Dingen andere Meinungen gehabt.

Ich kann mich gut abfinden mit dieser Beziehung, weil wir eine Schnittmenge gehabt haben und die Größe besessen haben, Dinge, die wir nicht gemeinsam gemacht haben, trotzdem dem anderen gerne zuzulassen. Also sie hatte Hobbys, die ich – ich will jetzt nicht sagen doof fand – aber die ich nicht so toll fand. Und sie hat mich meine Sachen machen lassen. Wir konnten uns über unsere Sachen erzählen und Interesse zeigen und haben sie nicht verächtlich gemacht. Insofern haben wir unsere Eigenarten und unsere individuellen Dinge akzeptiert und das ist eine Eigenschaft, die sehr wertvoll ist.

Ich sage Ihnen aber auch, Herr Zdzieblo, dass ich zwischen 25 und 35, wo ich sehr jung Vater geworden bin und Stiefvater gewesen bin, auch oft dachte: Na ja, vielleicht kommt da noch irgendwann mal was Besseres. Also ich habe auch mit meiner Situation gehadert. Ich weiß noch, als meine Frau mir mitteilte, dass sie schwanger ist, dachte ich im ersten Moment: Jetzt ist das tolle Leben vorbei, mit 24. Das sind so Gedanken, die, glaube ich, hat jeder mal, die sagt vielleicht nicht jeder, aber ich habe das Leben schon mit Respekt gesehen. Ich bin aber einfach morgens aufgestanden und habe gesagt: Das schaffst Du, das kriegst Du hin! Also mein Selbstbewusstsein hat da viel Dynamik entwickelt, um da durchzukommen.

Ja, ich muss ehrlicherweise sagen, dass das bei mir nicht anders war. Ich bin auch relativ jung Vater geworden – mit 28 – und das ist schon ein einschneidendes Erlebnis, wenn man vom Paar zu Eltern wird. Und diesen Respekt kann ich absolut nachvollziehen und auch, dass das nicht immer rosig ist und dass man denkt: Geht das denn alles gut? Herr Rogalla, Sie sind ja nach dem Tod Ihrer Frau nicht lange partnerlos geblieben und das mitten in der Pandemie. Wie haben Sie Ihre jetzige Partnerin kennengelernt?

In der Tat ist mir dieses Glück beschieden worden und zwar auf eine so zufällige Weise, dass es einem fast schon Angst macht, und gleichzeitig auf eine so kitschige Weise, dass, wenn es ein Filmstoff wäre, Rosamunde Pilcher wahrscheinlich gesagt hätte: Das ist viel zu schnulzig, das kann gar nicht sein.

Mein Schwiegersohn hat in der Trauerzeit eine Zeitung bei mir zu Hause liegen lassen. Und in dem Wochenblatt sind immer Kontaktanzeigen. Ich habe vorher, die ganzen 50 Jahre meines Lebens, nie Kontaktanzeigen gelesen, geschweige denn für gut befunden. Ich habe immer gedacht: Das ist für die, die sonst keinen finden. Also ich war da arrogant und hochnäsig. Aber bevor ich dieses Magazin ins Altpapier entsorgt habe, fiel mein Blick auf eine oben links stehende Anzeige, die so toll formuliert war, dass ich dachte: Die beschreibt ja mich! Also sie hat beschrieben, was sie sucht. Und da habe ich gedacht: Das bin ich.

Ich habe die Zeitung dann nicht ins Altpapier getan, sondern erst noch mal 14 Tage liegen lassen. Und als ich sie dann im zweiten Anlauf ins Altpapier schmeißen wollte, weil ich kurz vor dem ersten vierwöchigen Urlaub in meinem Leben stand, habe ich gedacht: Du schreibst ihr mal, dass das eine tolle Anzeige ist und dass man sich ja gelegentlich vielleicht mal auf einen Kaffee treffen kann.

Und so habe ich dann zwei Karten geschrieben, in einen Briefumschlag gesteckt und habe, weil ich mich noch nicht outen wollte, weil ich ja im tiefsten Herzen ein ganz schüchterner Mensch bin, meine Büroadresse und meine Angestellte vorgeschoben. Dummerweise habe ich es ihr nicht gesagt, so dass ich dann in den Urlaub gefahren bin und per WhatsApp eine Nachricht bekam: „Thomas, hier sind sechs handgeschriebene Seiten gekommen, die an mich adressiert sind. Das kann aber irgendwie nicht sein.“ Das war mir sehr, sehr peinlich, weil ich natürlich meiner Angestellten nicht erzählen wollte, dass ich auf Freiersfüßen unterwegs bin.

Und dann haben wir gemailt, ich bin aber im Urlaub geblieben. Aus diesen Mails ist mittlerweile ein Buch entstanden, das sie mir geschenkt hat, weil wir beide sehr schreib- und redefreudig sind und uns jeden Tag endlose Mails geschrieben haben.

Sie ist dann in den letzten drei Tagen meines vierwöchigen Urlaubs nach Südtirol gekommen. Das hatten wir mal so zwischendurch entsponnen, wie toll das wäre und ich könnte sie doch in München abholen. Und das habe ich auch gemacht. Und, was soll man sagen, es ist wirklich eine ganz große Liebe.

Ich kann jeden Mann – es ist ja ein Männerpodcast hier – nur ermutigen, wenn eine Partnerschaft in die Brüche geht, sei es durch Scheidung oder auch durch Tod: Da kommt noch was! Das ist nicht das Ende. Seid offen für alles! Und ich verrate auch kein Geheimnis, mittlerweile habe ich auch mit anderen Männern gesprochen, die in einer zweiten Beziehung sind: In der zweiten Beziehung sind manche Dinge viel einfacher als in der ersten.

Okay und welche wären das?

Man macht sich weniger vor. Beide haben schon ein Leben hinter sich, wie lang es auch immer ist. Ich rede jetzt mal von den Männern in unserem mittleren Lebensabschnitt. Man hat dann schon etwas hinter sich und sich selber gut ausprobiert. Man weiß, was man mag und was nicht.

Ich glaube, daten und flirten mit 40plus ist ganz anders als mit 25, weil man keine Balztänze mehr aufführt, sondern weil man relativ schnell sagt, wer man ist, was man mag und was man nicht mag. Gerade das, was man nicht mag und nicht möchte, das spricht sich leichter aus, wenn man ein bisschen älter ist. Das ist meine Erfahrung.

Und man hat ja auch nicht mehr so viel Zeit. Das muss dann auch schon passen. Also wenn man jetzt noch vier, fünf Jahre auf dem Datingmarkt verdaddelt… Ja, wir haben noch einiges an Zeit vor uns, aber nicht mehr so viel wie mit 20, 25 oder 26.

Ja!

Haben sich Ihre Prioritäten und Ziele im Leben seit dem Verlust Ihrer Frau verändert?

Ja. Zwei Dinge haben sich verändert. Ich bin sensibler geworden. Ich habe ja schon gesagt, dass man mich leichter rühren kann. Ich hoffe, dass meine Kinder das jetzt nicht anhören, oder meine Enkel, und mich ausnutzen. Ich bin tatsächlich leichter berührbar, sehr viel leichter als früher und kann das auch zulassen.

Und das Zweite: Ich jachtere, wie man bei uns sagt, nicht mehr den ganz großen Träumen hinterher, die zu fern sind, als dass sie realistisch wären. Also ich muss in diesem Leben keine Villa mehr am Starnberger See haben. Ich muss auch keinen italienischen Sportwagen mit 800 PS fahren.

Ich bin viel mehr im Hier und Jetzt, das stelle ich fest. Es ist jeder Abend schön bei Kerzenschein und Kamin und schönen Gesprächen. Man wird etwas lebensbewusster, Herr Zdzieblo. Ich bin sehr diszipliniert, was Joggingrunden angeht, was dank eines Hundes sehr gut in den Tagesablauf passt. Ich denke mehr darüber nach, was ich an Essen zu mir nehme. Mit anderen Worten: Die verbleibende Zeit wird kostbarer.

Man kriegt wirklich eine Lektion um die Ohren gehauen. Wenn man aus der herauskommt, dann ist man ein anderer Mensch. Das muss man wirklich sagen. Und das haben mir viele gesagt. Die, die mich lange kennen, sagen, ich hätte mich sehr verändert. Ich bin freundlicher, zugewandter, empathischer, zuhörender. Also es werden Eigenschaften hochgespült, die natürlich da waren, weil ich natürlich ein rundum Super-Typ bin… Aber Scherz beiseite: Es kommen Sachen nach vorne in die erste Reihe, die vielleicht vorher ein bisschen verschüttet waren.

Das ist auch typisch für die Lebensmitte, dass das, was in uns angelegt ist – auch das, was Sie vorher erwähnt haben: das Weiche, das Nah-am-Wasser-Gebaute – das bricht sich Bahn. Das darf auch so sein und das dürfen wir einfach so annehmen. Und wir kriegen dazu ja auch positives Feedback von unserer Umgebung. Jetzt gibt es sicher den ein oder anderen Mann, der hier zuhört und gerade seine Partnerin verloren hat oder bei dem es abzusehen ist, dass er seine Frau verlieren wird. Können Sie ihm einen Rat geben, wie sich die Trauer bewältigen lässt?

Bei Ratschlägen bin ich immer vorsichtig. Meine persönliche Erfahrung ist: Ganz viel reden. Also sich Gesprächspartner suchen. Denn ich habe es nie erlebt, dass jemand sagte: „Ach nee, das Thema ist mir jetzt aber ein bisschen zu düster. Da geh mal zu jemand anderen.“ Alle haben sich geöffnet und von eigenen Sorgen und Ängsten gesprochen, teilweise das erste Mal. Also: Reden hilft.

Meine neue große Liebe ist Psychologin, und sie hat mir relativ früh gesagt: „Da, wo die Angst ist, geht es lang.“ Anerkennen, dass – wenn jemand dabei ist, einen Menschen zu verlieren oder ihn schon verloren hat –  das wirklich traurig und ein Schicksalsschlag ist. Aber man kommt da durch. Es geht vorbei. Das ist, glaube ich, die Hoffnung, die dann oft verschüttet wird. Diese Hoffnung ist immer da. Wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist der Tag schon da. Der wartet ja darauf, dass er wiederkommt. Mein Rat wäre, mir die Mittel zu suchen, die mich diesen Tag sehen lassen. Das kann bei dem einen Gespräch sein, das kann bei dem anderen eine Therapie sein.

Das ist auch das Wissen: Wir Menschen, auch wir Männer, können mit einem Verlust umgehen. Man kann da rauskommen. Das Gefühl, wie an den Tagen vor dem Tod und nach dem Tod, bleibt nicht so. Ich muss Ihnen aber auch sagen: Wenn mir jemand sagt „Die Zeit heilt alle Wunden.“, dann kriege ich immer erhöhten Pulsschlag. Das ist aus meiner Sicht falsch und sehr banal gesagt.

Man lernt diese Wunden zu integrieren. Sie werden kleiner und sie gehören dazu. Ich werde ja auch mit 80 – und ich hoffe, dass ich 80 oder auch 90 werde – trotzdem ein Witwer sein, auch wenn ich wieder eine neue Liebe habe, eine neue Lebensgefährtin. Ich integriere das in mein Leben. Da kann ich nur sagen: Ja, liebe Trauernde, das geht. Man kann den Verlust eines Menschen integrieren.

Foto von Mike Labrum auf Unsplash

Titelfoto von Julia Kadel auf Unsplash

Rogalla
#12
Witwer in der Lebensmitte: Wenn man die Partnerin viel zu früh verliert

Es ist für jeden Mann mit Partnerin der absolute Albtraum: In der Lebensmitte erkrankt die Frau von Thomas Rogalla an Brustkrebs. Es beginnt ein jahrelanges Ringen um die richtige Therapie, offene Kommunikation zu den Kindern und Momente der Leichtigkeit. Am Ende verliert er seine Frau dennoch an den Krebs. In der Episode zeigt der junge Witwer, wie er aus dieser Krise herausfand und warum er heute glücklich und dankbar ist. Eine hoffnungsvolle Unterhaltung über Wachstum durch Krisen.

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