Tod und Trauer erleben fast alle Menschen in der Lebensmitte. Denn die eigenen Eltern werden alt, krank und sterben schließlich. Aber auch im Freundes- und Bekanntenkreis kommen die Einschläge der Todesnachrichten näher. Wie man Trauernden am besten begegnet und was man selbst tun kann, um einen Verlust zu verarbeiten, das erfährst Du in diesem Beitrag mit Stefan Bitzer. Er hat mit 38 Jahren zuerst seine Frau und zehn Tage später seinen Vater verloren und war plötzlich alleinerziehender Vater von vier kleinen Kindern. Heute arbeitet er als Trauerbegleiter und berät Menschen in der Vorsorge.
Stefan, Du bist professioneller Trauerbegleiter. Da denkt man natürlich fast ausschließlich an die Begleitung von Menschen, die einen lieben und nahen Menschen verloren haben. Man kann aber auch Anderes betrauern, zum Beispiel das Scheitern einer Ehe oder dass man als Paar keine Kinder kriegen kann. Begleitest du auch Menschen in diesen Arten der Trauer?
Zum Teil ja, wobei die Leute oftmals gar nicht so auf dem Schirm haben, dass es Trauerarbeit ist, was sie da leisten, sondern das ist halt irgendwie doof oder herausfordernd oder sonst irgendwas. Aber nicht, dass es mit Trauer zu tun haben könnte. Wir verknüpfen Trauer normalerweise mit dem Tod.
Das wäre vielleicht auch ein guter Hinweis: Wenn es etwas zu betrauern gibt, wärst Du ein guter Ansprechpartner. Das muss nicht immer das Schlimmste, der Tod, sein. Es gibt genügend andere Themen, die man verarbeiten muss.
Ja, alles, wo ich mehr oder weniger unfreiwillig Abschied nehmen muss und mich dann auf etwas Neues einlassen muss, hat mit Trauer zu tun. Also Arbeitsplatzverlust, ein Umzug. Da gibt es viele Anlässe: Abschied, Neuanfang, Neuorientierung. Das hängt oftmals mit Trauer zusammen.
Gibt es ein Bild für Dich oder eine Metapher, die gut beschreibt, was Trauer eigentlich ist oder wie sie sich anfühlt?
Für mich ist Trauer in aller Regel ein Ausdruck von Liebe. Bei mir sitzt nie jemand, der oder die sagt: Ich bin froh, dass der Alte fort ist. Die Menschen gibt es auch, aber die kommen nie zu mir, weil es dann nicht um Liebe geht. Und Trauer hat normalerweise damit zu tun, dass ich etwas oder jemanden geliebt habe, und diese Liebe kein Gegenüber mehr hat. Und dann ist die Frage, was mache ich jetzt damit? Also was mache ich mit der Liebe, die ja noch da ist? Wenn mein Partner, mein Kind, meine Eltern sterben, dann höre ich ja nicht von heute auf morgen auf, denjenigen zu lieben. Aber da kommt halt nichts zurück. Und deswegen hat für mich, und das ist auch wieder ein schöner Gedanke, Trauer immer mit Liebe zu tun.
Ja, also eigentlich ein gutes Zeichen. Wenn man trauert, dann ist Liebe da, man hat geliebt, man liebt.
Genau.
Schlimm wäre es, wenn es andersrum ist.
Ja, das gibt es auch genug. Es sterben ja nicht nur die guten Leute. Es gibt ja auch genügend, bei denen man sagt: „Es ist wirklich gut, dass der weg ist“. Das sagt natürlich keiner, aber der Mensch wird nicht betrauert, weil es eine Erleichterung ist, dass er nicht mehr da ist.
Was natürlich auch sein kann – vielleicht streifen wir das Thema später –, wenn man einen langen Krankheitsprozess begleitet, zum Beispiel bei den eigenen Eltern, dann hat man am Ende einen Teil der Trauerarbeit schon geleistet. Bei meinem Vater war das der Fall. Da sagt man zum Schluss: „Gut, dass es rum ist.“ Aber das ist ein anderes Thema. Das ist ein langgestreckter Trauerweg.
Und dann fängt die Trauer eben nicht mit dem Tod an, sondern mit dem Tag der Diagnose oder mit dem Tag, wo es schwerer, mühsamer wird oder bei Demenzkranken, wo der andere anfängt, einen nicht mehr zu erkennen. Das ist alles auch Trauerarbeit.
Absolut!
Ein Abschied auf Raten.
Das ist super formuliert. So habe ich es auch immer formuliert: Abschied auf Raten. Für mich persönlich, wenn das Sterben über einen längeren Zeitraum geht, ist das eigentlich ein guter oder natürlicher Weg. Mal aus dem Nähkästchen geplaudert: Meine Mutter ist über Nacht verstorben, ganz plötzlich. Sie war zwar schon krank, aber das war trotzdem ein Schock. Bei meinem Vater dauerte dieser Prozess ungefähr drei Jahre. Und dann ist das eine sanfte Landung, kann man fast sagen.
Wenn man sich darauf einlässt. Denn es gibt genug Kranke/Sterbende oder Leute aus dem Umfeld, die die Augen zu machen und sagen: „Da ist gar nichts.“ Und das gibt es leider auch immer wieder und es wird nie darüber geredet. Dann wird es unter Umständen auch schwierig.
Das Thema werden wir nachher gerade auch in Bezug auf Männer auf jeden Fall nochmal besprechen. Wir haben ja gehört: Tod und Trauer kennst Du aus erster Hand. Gab es denn in Deiner eigenen Trauerzeit ein Gegenüber oder ein Angebot, das dir besonders geholfen hat?
Das ist tatsächlich schon ein paar Jahre her. Meine Frau und mein Vater starben im Jahr 2008, meine Mutter ist schon 2005 gestorben. Damals gab es fast keine Trauerangebote, wie z.B. Trauergruppen. Ich habe damals zumindest von nichts gehört.
Was mir unglaublich geholfen hat, und ich hätte es, glaube ich, anders tatsächlich nicht überstanden, waren Freunde. Und zwar Leute, die da waren und bei denen ich einfach sein durfte. Das war für mich das Entscheidende. Die mich so akzeptiert haben, wie ich bin. Mal ging es mir richtig scheiße, und ich war richtig schlecht drauf. Und mal war es ein bisschen leichter und das durfte dann auch sein. Man durfte auch mal lachen, ohne dass gleich jemand komisch wird. Das hat mir unglaublich geholfen.
Das klingt für mich so, als ob da noch gar keine Handlung von denjenigen gefragt ist, die einen begleiten. Du hast ja auch das Gegenteil erfahren. Was hat Dich damals verletzt oder verärgert, wie Leute auf Deinen Verlust reagiert haben?
Dass mich jemand verletzt hätte, habe ich tatsächlich gar nicht so erlebt. Was mich manchmal traurig gemacht hat oder wo ich traurig für die Leute war, waren die blöden Sprüche. Die ganzen Ratschläge oder dieses ganze „Das wird schon wieder“ und „Du bist ja noch jung, Du kannst ja nochmal heiraten“ und so weiter. Ich sage: „Lass stecken!“ Das ist einfach völliger Quatsch. Das hilft keinem Menschen. Das „hilft“ vielleicht dem, der das sagt, weil er hat ja dann was gesagt. Aber dem Gegenüber, dem Trauernden, helfen die ganzen Sprüche überhaupt nicht.

Das tut nur noch mehr weh.
Genau. Weil, wenn man mal ein bisschen drüber nachdenkt, der Trauernde, die Trauernde merkt: „Ich werde nicht ernst genommen.“ Ich habe das auch zu hören bekommen: „Ja, dann heirate halt nochmal.“ Das heißt: Meine damals verstorbene Frau Andrea war ein Platzhalter und den kann man ja beliebig ersetzen. Da sage ich: „Stopp, stopp, stopp! Mir geht es nicht darum, Hauptsache eine neue Frau, sondern mir fehlt Andrea.“
Die eine.
Genau. Und die lässt sich nicht austauschen. Wenn mir mein Auto kaputtgeht, dann kann ich auch ein anderes nehmen. Oder wenn mir mein Stabsauger kaputtgeht, dann muss ich halt einen neuen kaufen. Da ist es egal, ob der rot, grün, gelb oder blau ist. Aber einen Menschen kann man nicht einfach austauschen und sich dann einen neuen nehmen. Das erleben auch Eltern, wenn ein Kind stirbt. Dann heißt es: „Ja, dann kriegt halt nochmal eins“. Also wenn man sich das mal anhört und darüber nachdenkt, merkt man, wie pervers solche Aussagen eigentlich sind. Alle Trauernden hören sich solche Sprüche an. Und das tut weh.
Wo Du das gerade sagst: Ich erinnere mich an den Tod meiner Mutter, die mit 75 nicht so wahnsinnig alt geworden ist. Und da hat auch ein älterer Herr nach der Kirche mich gefragt, wie das denn war. Ich habe ihm gesagt, dass sie über Nacht verstorben ist und morgens einfach nicht mehr aufgewacht ist. Da hat er gesagt: „Ah ja, dann ist ja alles super, das passt doch!“ Ich glaube, er hat da von seinem eigenen Wunsch gesprochen, so sterben zu wollen. Das wollen ja viele. Aber für mich war das trotzdem maximal unpassend und es hat mir gar nicht geholfen. Ich habe ihn zwar verstanden, aber das war einfach auch nochmal ein Stich… Stefan, Du bist Theologe und Christ. Da hat man natürlich auch Kontakte zu anderen gläubigen Menschen. Nicht selten treten aber diese in besonders große Fettnäpfchen, wenn sie mit Trauernden sprechen. Was sind so die schlimmsten frommen Sprüche, die Du zu hören bekommen hast?
Die erste Reaktion, die ich damals bekommen habe auf die Nachricht, dass Andrea gestorben ist, war ein Zitat aus der Bibel, Römer 8, Vers 28, dort steht: „Uns müssen alle Dinge zum Besten dienen.“ Das hat mir damals einer per Mail geschrieben. Da habe ich tatsächlich Mitleid mit demjenigen gehabt, der das geschrieben hat, weil ich dachte: „Kollege, Du hast gar nichts verstanden.“ Der Vers ist maximal unpassend in dieser Situation. Denn was soll mir da zum Besten dienen?
Vor einiger Zeit habe ich gehört, wo jemand sehr tragisch verstorben ist: „Es war der gute Plan Gottes.“ Und da sage ich: „Auch Du hast nichts verstanden.“ Weil es ist nicht der gute Plan Gottes, dass Menschen sterben. Und schon gar nicht junge Menschen. Und schon gar nicht tragisch. Was ich auch immer grundsätzlich schwierig finde, wenn man anderen Leuten einfach irgendwelche Bibelverse um die Ohren haut. Oder was es leider auch immer wieder gibt, ist, dass man versucht, das Ganze irgendwie zu begründen. Einer Familie, der ein Kind verstorben ist, sagte einer aus dem Umfeld: „Na ja, ich weiß warum. Da war eben Sünde in Eurem Leben.“ Und da wird es mir kalt. Das ist sowas von unbarmherzig und gnadenlos, sowas zu sagen und jemandem um die Ohren zu hauen, dass ich sagen muss: „Hey, halt die Klappe!“
Lieblos, kalt und darüber hinaus noch total falsch. Sonst müssten Leute, die ganz ohne Sünde leben, was sowieso nicht geht, ja dann 150 werden.
Genau.
Wie wäre denn ein guter, unterstützender Umgang mit Trauernden?
Da sein. Mit aushalten. Ich bin Notfallseelsorger im Ehrenamt, und wenn ich in die Situation komme, da ist jemand plötzlich, unerwartet verstorben, und die Angehörigen sind im Ausnahmezustand, nachvollziehbarerweise. Ich habe kein magisches Pulver dabei. Ich kann nicht dafür sorgen, dass es denen wieder gut geht oder dass die sich nachher tanzend in den Armen liegen und sagen: „Ach, wie ist das Leben schön.“
Das Einzige, was ich machen kann, und das ist genau das, was auch alle im Umgang mit Trauernden machen können: Da sein und mit aushalten. Ich bin nicht so persönlich betroffen, wie derjenige, dessen Angehöriger oder lieber Mensch oder Freund jetzt gerade verstorben ist. Und dadurch habe ich einen gewissen emotionalen Abstand. Ich bin oftmals auch sehr erschüttert, weil es manchmal wirklich schlimme Schicksale gibt. Und dann gilt es, das mit auszuhalten und da zu sein. Keine Sprüche, keine Bewertungen, keine Ratschläge. Ich sage immer, bei Ratschlägen, ist das „Rat“ relativ kurz und die Schläge sind relativ lang. Allein, wenn man die Zahl der Buchstaben mal anguckt. Und die helfen auch alle nichts.
Aber ich brauche jemanden, an dessen Schulter ich mich mal ausweinen kann. Ich brauche jemanden, der mir die Hand reicht. Ich brauche jemanden, der weiter mit mir geht und da ist. Und bei dem ich, wie ich es vorhin gesagt habe, sein darf. Und wenn ich gut drauf bin, bin ich gut drauf. Und wenn ich schlecht drauf bin, was zumindest am Anfang der Trauer oft das Häufigste ist, dann bin ich schlecht drauf. Meiner Wahrnehmung nach kriegt ein Trauernder ungefähr drei Monate zugestanden. Und nach drei Monaten muss es dann aber langsam wieder gut sein. Weil jetzt ist es doch schon so lang her. Und ich sage: Nach drei Monaten hat er noch gar nicht verstanden, was passiert ist. Also hat das Elend noch gar nicht überrissen.
Und da braucht es Leute mit langem Atem, die auch nach einem Jahr noch da sind und denen ich zum 500. Mal sagen darf: „Ich kann es nicht fassen, dass meine Frau tot ist, und ich vermisse sie so sehr.“ Und ganz viele Trauende erleben nach dem fünften Mal, dass andere die Augen verdrehen und sagen: „Das hast Du schon so oft gesagt. Jetzt reicht es langsam.“
Oh Gott… Der Rat, den Du gerade gegeben hast, ist auf der einen Seite furchtbar schwierig, gerade in der akuten Phase, weil man ja was machen will. Man will ja was sagen und man soll nur da sein. Aushalten, hast Du gesagt. Auf der anderen Seite ist es vielleicht auch entlastend, weil ich weiß, ich muss jetzt keine Klimmzüge machen. Ich muss jetzt nicht der „ Bespaßer“ oder der „Tröster“ sein, denn wenn ich da bin, ist es Trost genug. Und das Aushalten ist Hilfe genug.
Ja, die Hilflosigkeit, die Du ansprichst, ist die größte Herausforderung. Und zwar meine und Deine. Ich muss meine Hilflosigkeit als Begleiter aushalten, weil ich merke, ich kann nichts tun. Und ich muss Deine Hilflosigkeit als Trauernder aushalten, weil ich merke, Dir geht es furchtbar schlecht und daran kann ich nichts ändern. Aber das ist das Schöne und mich entlastet das auch. Egal, ob in der Begleitung von Trauern oder in der Notfallseelsorge, ich kann mir von vornherein sagen: Ich kann die Situation nicht ändern. Und nicht ich entscheide, ob ich hilfreich bin, sondern der andere. Und dann höre ich immer wieder: „Danke, dass Sie da waren. Danke, dass Du da warst, das tat mir so gut.“
Ich vergleiche das immer wieder mit der Geburt von Kindern. Ich war bei der Geburt von allen vier Kindern dabei. Und ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt wie bei den Geburten meiner Kinder. Meine Frau lag da und eine Geburt ist kein Spaziergang und kein Spaß. Und nach meinem Empfinden war ich völlig überflüssig. Ich stand da und ich sah, wie es ihr nicht gut ging, wie sie kämpfte und presste. Und sie sagte im Anschluss: „Stefan, es war so gut, dass Du da warst.“
Da hast Du Dich erst mal gewundert und gesagt: „Ich habe doch gar nichts gemacht.“
Genau, absolut gewundert. Aber ich habe gemerkt, es geht nicht immer nach meinem Empfinden, sondern der andere entscheidet, ob das gut ist. Und für sie war es offensichtlich hilfreich. Und das hat mich dann auch wieder entlastet. Aber man kann tatsächlich, weil die Hilflosigkeit natürlich groß ist, auch ganz viel machen. Aber nicht, um die Trauer zu verkleinern, sondern um zu begleiten. Also bring dem Essen vorbei, lade ihn ein zum Spazierenlaufen oder mähe ihm den Rasen oder wechsle ihm die Winterreifen.
Ich war heute Nachmittag erst bei einer Freundin, deren Mann verstorben ist. Ich habe gesagt: „Du, ich werde ab sofort Dir Mineralwasser bringen.“ Weil sie die Kästen nicht so gut tragen kann. Das ist mein Job. Da müssen wir überhaupt nicht über die Trauer reden, sondern sie merkt: „Ich bin nicht alleine. Da ist jemand noch da.“ Und das hilft mir, weil ich nicht mehr so hilflos bin. Und das hilft dem anderen ganz praktisch, weil er merkt: „Ich werde entlastet. Und ich bin nicht alleine.“
Interessanterweise kriegen Männer viel mehr Hilfsangebote als Frauen, weil Männer offensichtlich in der Wahrnehmung der Leute viel hilfloser sind als Frauen. Es gibt fast keine trauernde Frau oder Witwe, der angeboten wird, dass sie Essen bekommt oder sonst irgendwas. Das kriegen nur Männer. Aber auch das hat mich sehr entlastet, dass immer wieder mal jemand was zu essen vorbeigebracht hat. Super. Also ich konnte kochen damals, aber es war schön, wenn ich nicht immer kochen musste.
Vielleicht traut man Frauen eher zu, die Trauer emotional besser zu verarbeiten. Zumindest steht die Aussage im Raum, dass Frauen einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen haben.
Mag sein, stimmt aber auch nicht immer. Auch da gibt es beides, würde ich sagen.
Was erleben denn Trauernde in der akuten Phase? Ich habe mal was von einer Trauer-Demenz gehört, das hast Du auch schon mal in einem Interview erwähnt. Stehen die komplett neben der Kappe? Kann man das so sehen oder was hat das damit auf sich?
Das ist natürlich alles sehr pauschal, denn es gibt nicht die Trauer und es gibt nicht den Trauernden. Trauer ist etwas unglaublich Individuelles. Das hängt von der Beziehung ab, die ich zu dem Verstorbenen hatte. Das hängt von meinen Lebensumständen ab. Das hängt von der Möglichkeit ab, Zeit zu haben. Also bin ich voll berufstätig und muss rödeln ohne Ende oder habe ich tatsächlich mehr Luft? Was tatsächlich einigermaßen typisch ist, was ganz viele Trauernde erleben, ist, dass sie schlecht schlafen. Sie kommen nicht zur Ruhe.
Und viele, Du hast die Trauerdemenz erwähnt, werden wahnsinnig vergesslich. Meine Theorie ist, dass der Körper einfach zentralisiert. Dass er sagt: Du brauchst Deine Kraft gerade zum Überleben. Und Trauer ist am Anfang tatsächlich oftmals der Kampf ums Überleben. Und dann muss alles andere hintenanstehen. Dann bleibt eben keine Kraft mehr für Erinnerung, dann bleibt keine Kraft mehr für was weiß ich was, sondern dann fließt alle Kraft dorthin, wo es ums Überleben geht.
Viele Trauernde sagen dann auch im Gespräch: „Ich kenne mich selber nicht mehr, ich bin mir selber so fremd geworden.“ Und da gibt es die gute Nachricht: Gerade Trauerdemenz geht wieder weg. Ich kann nicht sagen, in welchem Zeitraum, aber es geht wieder weg, das wird besser. Schlafen wird meistens auch wieder besser. Und auch da gibt es ja auch schöne Sachen, die man mal zur Unterstützung nehmen kann. Also nicht immer Schlaftabletten, aber es gibt auch pflanzliche Sachen, die nicht abhängig machen. Und ein bisschen Schlaf ist dann doch durchaus hilfreich, um Kräfte zu tanken.
Wie sieht denn die Arbeit von Dir mit Trauernden aus? Begleitest du diese hauptsächlich in Einzelterminen oder liegt der Schwerpunkt auf Gruppen?
Von der Anzahl her liegt der Schwerpunkt definitiv auf Gruppen. Das hat, glaube ich, auch ein damit zu tun, dass die Leute sich nicht so trauen oder dass sie einfach die Einzelbegleitung gar nicht auf dem Schirm haben. Und man muss auch dazu sagen: Es ist auch oftmals gar nicht so nötig, dass jemand über längere Zeit eine Einzelbegleitung braucht. Ich führe mit allen Trauernden, die Kontakt aufnehmen, und Interesse an einer Gruppe haben, immer ein Einzelgespräch. Und dann sortieren wir ein bisschen, auch mit der Frage: Kommt die Gruppe überhaupt in Frage? Ist es zu früh oder ist überhaupt etwas Anderes dran?
Es gibt so eine irrige Annahme, dass man mit Trauer niemals klarkommen kann. Dass das ganz schrecklich ist und mein ganzes Leben jetzt versaut ist und ich nie mehr glücklich werde. Die allermeisten Menschen kommen mit ihrer Trauer viel besser klar, als sie das am Anfang selber vermuten und wahrhaben wollen. Und wenn ich dann immer wieder diesen geschützten Rahmen habe, zum Beispiel einer Gruppe, dann merke ich: Das tut mir gut. Und viel mehr brauche ich auch gar nicht. Wenn ich dann noch ein Umfeld mit ein paar Leuten habe, die mir guttun, wo ich sein darf, was wir vorhin schon hatten, dann reicht das völlig.
Also die Fähigkeit zum Verarbeiten ist in jedem Menschen angelegt.
Absolut. Ich höre das immer wieder, dass Trauernden gesagt wird: „Du brauchst professionelle Hilfe.“ Und dann frage ich immer: „Was ist denn professionelle Hilfe?“ Die Leute denken sofort an Medizin oder an Tabletten oder an Psychotherapie. Und ich sage: Das mag in manchen Fällen hilfreich sein, aber in den allermeisten Fällen ist das gar nicht nötig. Weil Trauer ist keine Krankheit. Also ich muss einen Trauernden nicht wie einen Kranken behandeln, sondern ich muss einen Trauernden zunächst mal ernst nehmen, ihm zuhören, ihn reden lassen, ihn aushalten. Und dann wird es tatsächlich im Laufe der Zeit besser, was auch immer besser dann heißt. Aber allein dieses Sein-Dürfen macht schon unglaublich viel aus. Und was leider ganz viele Trauernde erleben, ist, dass die Menschen, von denen sie dachten, dass sie da sind und man sich auf sie verlassen kann, plötzlich weg sind. Dass die besten Freunde wegfallen. Dann kommen zu dem einen Verlust noch andere Verluste. Und dann wird es eng.

Dann formieren sich die Freundeskreise nochmal neu. Auf solche Leute kannst Du dann auch nicht bauen. Ein Freund ist immer dann besonders wichtig, wenn es hart auf hart kommt. Für den Spaß kann ich auch lose Bekanntschaften haben.
Genau. Ich sage immer: „Hast Du jemanden, den Du nachts um drei anrufen kannst, wenn es Dir dreckig geht?“ Weil oftmals geht es Dir nachts dreckig. Jemanden, den Du anrufen kannst und ihm sagen kannst: „Bitte komm jetzt!“ Der nicht mit dir eine halbe Stunde diskutiert, ob ich eigentlich weiß, wie viel Uhr es jetzt ist und ob das nicht bis morgen Zeit hat. Der weiß: Wenn der Stefan nachts um drei anruft, dann setze ich mich jetzt in mein Auto und fahre da hin. Und wenn Du so niemanden hast, dann schade.
Ich merke das in der Notfallseelsorge immer wieder. Da ist unsere Aufgabe auch zu gucken, wer könnte jetzt hilfreich sein. Denn wir sind ja fremd, wenn wir da kommen. Und dann fragen wir: „Wen hätten sie jetzt gern bei sich? Wer würde ihnen guttun?“ Und wenn die Leute dann sagen „Jetzt habe ich niemanden mehr, der Letzte ist gerade gestorben“, dann wird es mir kalt. Weil ich denke: Das ist jetzt nur der Anfang. Wer hilft Dir nachher in der Trauerverarbeitung? Wer ist nachher für Dich da? Und wenn Du da niemanden hast, dann wird es herausfordernd.
Du hast Trauergruppen genannt. Da haben ja alle einen Verlust zu beklagen. Du hast gesagt, das wäre eine hilfreiche Umgebung. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass man sich vielleicht gegenseitig runterzieht, weil der eine das Weinen anfängt und der nächste dann auch. Oder ist das so nicht in der Realität? Und falls ja, vielleicht passt es ja auch ganz gut.
Für mich ist eine Trauergruppe zunächst mal ein geschützter Rahmen. Da darf ich sein, wie ich bin. Mein Job als Gruppenleiter ist, den Rahmen zu sichern. Zu sagen: Hier liegt das Thema Trauer auf dem Tisch, hier darf man darüber reden. Da muss ich nicht erst dreimal das Stottern anfangen und sagen: „Ich würde gerne nochmal… Kann ich vielleicht mal…“ Sondern da wird von Anfang an Deutsch geredet. Das Thema liegt auf dem Tisch und dann darf man auch darüber reden.
In den Trauergruppen, die ich leite, das sind im Moment drei, da wird wahrscheinlich ungefähr so viel gelacht wie geweint, weil man einfach auch merkt, man ist unter seinesgleichen. Das sind alles Leidensgenossinnen und -genossen. Da darf man auch mal Blödsinn reden oder darf man sagen: „Hey, wisst Ihr, was ich jetzt gerade erlebt habe?“ Und die anderen lachen dann mit. Mein Motto für die Trauergruppen ist ein Zitat aus Ronja Räubertochter von Astrid Lindgren. Da heißt es: „Lange saßen sie dort und hatten es schwer. Doch sie hatten es gemeinsam schwer und das war ein Trost. Leicht war es trotzdem nicht.“ Und das drückt es für mich ganz gut aus. Einfach mal von anderen zu hören: „Ach, Dir geht es genauso. Ach, Du hast es auch schon erlebt. Ach, dann liegt es gar nicht an mir.“ Und natürlich ist es manchmal herausfordernd. Gerade wenn ich am Anfang das erste Mal komme und da sitzen jetzt sechs, acht, zehn, zwölf andere rum, die haben auch etwas Schlimmes erlebt.
Aber die Erfahrung der Allermeisten ist: „Es tut mir wahnsinnig gut. Ich bin nicht alleine mit diesem Schicksal.“ Ich habe zwei Gruppen für junge Verwitwete. Da gibt es nicht so viele, zum Glück. Und meistens hast Du auch keinen in Deinem direkten Umfeld. Und dann zu sehen: Es gibt doch andere. Und dann kann ich fragen: „Wie gehst du damit um?“ Oder auch so ganz praktische oder bürokratische Sachen: „Wie hast Du das mit der Witwenrente gemacht?“ Oder: „Wie machst Du es mit Deinen Kindern?“ Oder: „Wie machst Du es mit Urlaubsplanung?“ Oder: „Wie gestaltest Du den ersten Todestag?“ Und da sich auszutauschen, von anderen zu hören, ist unglaublich hilfreich. Und wie gesagt, wir lachen auch viel.
Ja, super. So ist das Leben halt: ein Mix… Was kann ich denn als Trauernder selbst tun, damit es mir bessergeht? Kann ich Trauerarbeit in irgendeiner Form beschleunigen? Oder ist das ein Prozess, der einen Rahmen braucht und mehr oder weniger von alleine ablaufen muss?
Ich habe mich viel mit dem Thema beschäftigt, unter anderem, weil jemand über mich am Anfang meiner Trauer gesagt hat: „Der Stefan trauert nicht richtig.“ Und das hat mich tatsächlich nicht verletzt, sondern nachdenklich gemacht. Und ich dachte: Okay, was heißt denn richtig trauern? Und die allermeisten Trauernden wollen nichts falsch machen. Und stochern im Nebel und gucken: „Hoffentlich verpasse ich nichts und hoffentlich verpasse ich keine Abzweigung.“
Trauern ist zunächst mal ganz oft Sackgasse. Also ich probiere irgendwas aus und merke: „Oh, da geht es nicht weiter. Okay, neu versuchen.“ Ich habe im Laufe der Jahre, und ich habe inzwischen einige hundert Trauerende begleitet, gemerkt: Es gibt nicht die Form von Trauer. Das ist sowas Individuelles, da muss ich meinen Weg finden. Das hat ganz viel mit meinem Bauchgefühl zu tun. Dass ich merke, was mir guttut, was mir nicht guttut, und ausprobiere. Es gibt eine falsche Form von Trauer, davon bin ich inzwischen überzeugt, und das ist dauerhaft verdrängen. Also tun, als wäre nichts. Das versuchen auch manche, tendenziell, glaube ich, eher Männer.
Wir hatten vorhin schon über den Zugang zu Gefühlen und Selbstreflexion gesprochen. Das ist manchmal ein bisschen herausfordernd. Und Verdrängen funktioniert nicht. Wenn ich es zwischendurch mal zur Seite schiebe oder sage „Jetzt brauche ich mal eine kurze Pause“, gar kein Thema. Aber dauerhaft, das funktioniert nicht. Und ansonsten: sprich drüber. Also wenn Du merkst, vielleicht käme eine Trauergruppe in Frage, dann such Dir eine. Guck, dass Du irgendjemanden, ein, zwei, drei Leute in Deinem Umfeld hast, bei denen Du sein darfst, und dann laber die voll. Erzähl denen immer wieder, was Dich beschäftigt, und hoffentlich halten sie es aus. Die Leute fragen immer: „Wie lange dauert denn Trauer?“ Und dann sage ich: „Wie lange dauert denn die Liebe?“ Wenn Du einen Menschen, Deinen besten Freund seit 40 Jahren kennst, kannst Du nicht davon ausgehen, dass die Trauer nach zwei Monaten weg ist.
Ja, das leuchtet ein. Verdrängen, hast Du gerade erwähnt. Gibt es weitere typisch männliche Reaktionsmuster auf das Thema Trauer?
Wenn wir im Klischee bleiben, sind Männer grundsätzlich eher so drauf, dass sie was tun wollen. Also nicht so viel reden. Das zeigt sich in Veranstaltungen – ich mache viele Veranstaltungen, Seminare, Wochenende für Trauernde –, dass der Frauenanteil deutlich höher ist. Auch in den Trauergruppen sind immer wieder Männer dabei, aber lange nicht so viele wie Frauen, weil Männer tendenziell – jetzt mal sehr klischee-mäßig – nicht so gerne reden, sondern lieber was tun. Männer verarbeiten ihre Trauer beim Holzhacken.
Wollte gerade sagen: Holzhacken, Fahrrad fahren, Kraft rauslassen.
Auspowern. Auch seine Wut rauslassen. Trauer hat oftmals mit Wut zu tun. Dass ich total stinkig bin. Ich hatte das auch: Ich war auf Andrea, meine verstorbene Frau, furchtbar wütend, dass sie einfach gegangen ist. Sie konnte nichts dafür, aber trotzdem war ich furchtbar sauer. Warum lässt Du mich im Stich? Und das muss ja irgendwo mal raus, und das kann ich nicht unbedingt jemand anderem immer sagen, weil damit auch nicht alle umgehen können. Aber beim Sport oder der Gartenarbeit kann ich mich körperlich auspowern, wo ich einfach nachher merke: Ich bin körperlich echt durch.
Könnte das auch so ein erster Schritt für Männer sein, sich der Trauer zu stellen, anstatt sie zu verdrängen? Oder würdest Du da was Anderes empfehlen?
Ich glaube, der erste Schritt ist die Selbstwahrnehmung. Wie geht es mir eigentlich und warum geht es mir so? Weil viele zunächst einmal ein bisschen emotionsbefreit wirken und sagen „Wird schon irgendwie“. Oder diese ganzen blöden Sprüche, die wir leider auch von der Kindheit noch kennen: „Ein echter Indianer kennt keinen Schmerz.“ Ich war vor kurzem in Mexiko unter Indigenen. Die kennen sehr viel Schmerzen. Oder: „Ein echter Mann weint nicht“ und lauter so Quatsch. Diese Sätze mal hinterfragen.
Die stecken immer noch in unserer Generation drin.
Ja, weil wir geprägt sind von der Nachkriegsgeneration oder der Kriegsgeneration. Und da war es tatsächlich so. Unsere Eltern, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, konnten nicht trauern, weil es da wirklich ums nackte Überleben ging. Da musste man irgendwie weitermachen. Das ist zum Glück heute anders. Wenn ich auf die Ukraine oder andere Kriegsgebiete sehe: Die haben auch keine Zeit zum Trauern. Die müssen irgendwie kämpfen, dass es weitergeht. Wir, im normalen Setting in Deutschland, haben die Möglichkeit und die Zeit und können sie uns nehmen. Und dann mich mal selber fragen: „Warum geht es mir gerade so komisch? Okay, das könnte was mit dem Verlust zu tun haben. Wie geht es mir da? Ich bin antriebslos.“
Oftmals zeigt die Trauer Symptome von Depressionen. Ich komme nicht mehr aus dem Bett, ich habe keinen Bock mehr. Mir ist alles zu viel, ich will keine Menschen mehr sehen. Mir das mal einzugestehen und zu sagen: „Ja, da ist was anders.“ Und dann ist die nächste Frage: „Was könnte mir jetzt guttun?“ Und das ist, wie gesagt, sehr individuell. Der eine sagt „Ich muss jetzt Fahrrad fahren“. Und der andere sagt: „Ich muss viel Gartenarbeit machen“ oder „Ich baue mir ein Gartenhaus“ oder was auch immer. Dann guck mal, ob Dir das guttut. Und der entscheidende Maßstab ist immer: Was tut Dir gut in Deiner Trauer? Das kannst nur Du beurteilen.
Wie hat sich denn Deine eigene Trauer über die Jahre verändert? Würdest Du sagen, dass Trauer irgendwann aufhört oder wandelt sie sich?
Ich habe es selber so erlebt und erlebe es bei fast allen anderen auch: Es wandelt sich. Aufhören ist immer so ein Thema. Ich habe zweieinhalb Jahre nach dem Tod meiner ersten Frau wieder geheiratet. Und da haben Leute gesagt: „Jetzt ist ja alles wieder gut.“ Andrea ist immer noch tot, auch heute, 17 Jahre später. Und sie ist immer noch Bestandteil meines Lebens, sie ist immer noch die Mutter meiner vier Kinder. Und sie fehlt noch immer.
Aber der Verlust tut nicht mehr so weh wie damals. Das verändert sich definitiv. Von dem her würde ich nicht sagen: Trauer hört auf, im Sinne von: Irgendwann ist der andere vergessen. Das passiert in zwei Generationen, weil wenn wir ehrlich sind: In zwei Generationen denkt auch an uns keiner mehr. Also ich denke nie an meine Urgroßeltern, ich kannte die gar nicht. Aber solange noch jemand lebt, der mich kennt, oder wie in meinem Fall, der meine Frau kannte, seien das ich, meine Kinder, Freunde, Verwandte, ist die Trauer noch Bestandteil. Für mich hat sich definitiv verändert, dass die Trauer meinen Alltag nicht mehr einschränkt, im Sinne von Verzweiflung, von Schmerz, von Wut, von Unverständnis. Sondern ich bin dankbar für die Zeit, die wir miteinander hatten. Und das ist für mich, das sage ich den Trauernden auch immer wieder, ein Ziel, das ich mir selber stecken kann. Nicht jemand anderes kann dieses Ziel für mich setzen: „Sei gefälligst dankbar, dass Du…“ Das ist Quatsch. Das hilft nicht. Sondern ich kann für mich sagen: „Ich möchte gern irgendwann dahin kommen, dass die Dankbarkeit größer wird als der Schmerz.“ Und ich habe es so erlebt und das ist tatsächlich was Schönes. Meine erste Frau fehlt immer noch. Ich verstehe es immer noch nicht, warum sie so früh sterben musste. Ich finde es immer noch unfair, aber es tut nicht mehr weh.
Vielleicht ist das – ich weiß nicht, ob das Bild passen könnte – wie eine Narbe von einem Unfall oder einer großen Operation. Die geht ja auch nicht weg. Aber die akuten Schmerzen sind nicht mehr da.
Ja (zögerlich)…Ein Vergleich, der nicht hinkt, ist kein Vergleich. Ich merke immer: Mir ist die Narbe eigentlich zu wenig. Andrea ist nicht nur eine Narbe. Verstehst Du, was ich meine? Aber ich weiß, was Du damit sagst. Ich habe damals gesagt: „Mir wurde mein Herz amputiert.“ Oder mir fehlt – man spricht ja immer von der besseren Hälfte – die Hälfte von mir. Aber tatsächlich, es bleibt. Und Andrea darf und muss auch bleiben. Der Verstorbene, finde ich, muss Bestandteil bleiben dürfen. Ich sage bei Trauerfeiern, die ich halte, immer wieder: „Tot bist Du erst, wenn keiner mehr an Dich denkt.“
Und auch zur Ermutigung für die Leute: „Wir konnten nicht verhindern, dass Du gehst, aber wir können verhindern, dass Du vergessen wirst.“ Dann lass uns drüber reden. Und wie viel Trauernde erleben das, dass der oder die Verstorbene oder deren Name nie mehr erwähnt wird. Da heißt es immer nur „Deine Frau“. Ich rede immer von Andrea. Das war eine Person. Das war nicht nur meine Frau, sondern Andrea war ein Mensch. Und lass uns die doch weiterleben lassen, in der Erinnerung. Und da gibt es ganz viele schöne. Also bei mir gibt es die. Bei Deinen Eltern gibt es ja ganz viele schöne Erinnerungen. Schlimm, dass sie nicht mehr da sind, aber Du wurdest durch sie geprägt und hast hoffentlich viel Schönes mit ihnen erlebt. Und das darf doch weiter bleiben.
Absolut. Klar. Man unterhält sich ja auch immer wieder mit den Geschwistern darüber, tischt alte Geschichten auf und lacht nochmal darüber. Zum Schluss schauen wir nochmal auf das Thema Glaube. In meinen Augen kann der Tod eines lieben Menschen dazu führen, dass mein Glaube an Gott stärker wird oder dass ich nicht mehr glauben kann. Wie war das bei dir?
Bei mir war es ein bisschen verdreht oder anders als bei vielen anderen. Ich war vor Andreas Tod völlig verzweifelt und habe aufgehört zu glauben. Du hattest es vorhin erwähnt: Ich bin ein studierter Theologe, war zehn Jahre lang Pastor. Ich war davor fix und fertig, hatte noch mit manch anderen Umständen zu tun. Und dann kam Andreas Erkrankung und ihr Tod noch dazu. Und auch die Erkrankung meines Vaters, wo ich irgendwann mal so gedacht habe – das war kein wirkliches Gebet: „Hey, Du da oben: Du kannst mich mal.“ Ich hatte keinen Bock mehr und auch keine Kraft mehr. Gott und ich sind aber zwei Tage vor Andreas Tod wieder Freunde geworden.
Wie das?
Durch ein Gespräch mit einem Freund, der mich sehr gut und mutig herausgefordert hat. Er hat mich gefragt: „Glaubst Du, dass Gottes Zusagen nicht mehr gelten, weil du sie nicht erlebst?“ Fand ich sehr mutig, aber es war offensichtlich zu dem Zeitpunkt genau das Richtige. Und dann habe ich vor Gott kapituliert und habe gesagt: „Okay, ich weiß nicht, was das Ganze soll und wo die Reise hingeht, aber ich möchte wieder Vertrauen lernen.“ Und dann ist zwei Tage später Andrea gestorben. Aber was sich tatsächlich verändert hat, war eine Ruhe oder ein Frieden, den Gott mir geschenkt hat. Das war mir am Anfang gar nicht so bewusst, das haben andere an mir festgestellt. Von dem her bin ich immer vorsichtig, wenn es heißt „Der Glaube ist eine Ressource und hilft auf jeden Fall.“ Manchmal, wie Du sagst, steht er auch im Weg, weil ich mich frage: „Wo ist Gott da? Was soll das alles?“ Und für manche ist er eine große Ressource, definitiv. So habe ich es nachher dann auch erlebt.
Titelfoto von Rainhard Wiesinger auf Unsplash
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