Aus dem goldenen Käfig in die Freiheit – Wie Männer in der Lebensmitte beruflich neu durchstarten

Vogelkäfig im Abendlicht

Fühlst Du Dich in Deinem Job nicht mehr wohl? Vielleicht schon länger nicht mehr? Aber das Unternehmen bietet halt so viel: Der Arbeitsplatz ist sicher, Du verdienst gut. Und vielleicht hast Du einen tollen Titel, der mit „Head of“ oder „Senior Vice“ oder gar „Chief“ beginnt. Und trotzdem macht Dich all das nicht mehr glücklich. Sabine Votteler hatte über 25 Jahre Managementpositionen in Marketing und Vertrieb und ist selbst in der Lebensmitte aus einem nach außen hin perfekten Job ausgestiegen. Heute ist sie Business-Coachin und begleitet Menschen, die spüren, dass ihre Arbeit zwar Sicherheit bietet – aber keine Erfüllung mehr. Ein Gespräch darüber, wie man den Mut findet, den „goldenen Käfig“ zu verlassen.

Sabine, bevor wir tief ins Thema steigen, sollten wir den Begriff „goldener Käfig“ genauer beschreiben – was verstehst Du darunter?

Ein goldener Käfig ist etwas, was auf der einen Seite Annehmlichkeiten mit sich bringt und auf der anderen Seite aber auch sehr große Einschränkungen und tatsächlich das Gefühl von eingesperrt-sein, wie in einem Käfig. Man sagt auch im englischsprachigen Raum die „golden Handcuffs“, die goldenen Handschellen. Das ist ein bisschen ein anderes Bild. Das heißt, meistens wird damit eine Abhängigkeit von etwas, vor allem von einem Job, oft von einem Gehalt, also von einer finanziellen Situation beschrieben, die einem keine Luft lässt, sich zu verändern, weil es gar nicht so einfach ist, „downzugraden“, weniger zu verdienen oder alternativ wieder was zu finden, womit man ähnlich viel Geld verdient. Und das Blöde, das Ungeschickte an der ganzen Sache ist, dass man sich diesen goldenen Käfig in der Regel selber gebaut hat.

Man ist selber reingeflogen.

Ja, man ist selber reingeflogen und hat gar nicht gemerkt, wie die Tür plötzlich zuging. Das ist tatsächlich so. Und man kommt dann auch nicht so einfach raus, weil man halt bestimmte Verpflichtungen aufgebaut hat. Das kennt man ja: Mit 20 hat man noch keine großen Ansprüche und braucht auch einfach nicht viel Geld. Deshalb ist es ja auch viel einfacher, sich mit 20 selbstständig zu machen als mit 50. Aber dann, wenn man sich halt an bestimmte Annehmlichkeiten gewöhnt hat und den Lebensstandard entsprechend angepasst hat, dann wird es halt schwierig. Für mich ist das auch wichtig, dass es nicht nur ein finanzieller Käfig ist, sondern dass dieser Käfig auch noch andere Seiten hat.

Genau, da können wir auch direkt reingehen. Wie äußert sich dieser goldene Käfig im Alltag? Woran merkt man, dass man selbst darinsitzt, auch wenn man das nicht wahrhaben will?

Man sitzt halt, kurz gesagt, in einem Dilemma. Also es ist wirklich eine ausweglose oder zumindest ausweglos erscheinende Situation. Das, was ich tue, die Position, in der ich bin, vielleicht ganz generell, nicht nur die Firma, in der ich bin, sondern oft auch die Branche oder auch das Level, auf dem ich mich beruflich bewege, das macht mir keinen Spaß mehr. Das erfüllt mich nicht mehr. Das stresst mich zunehmend. Da fühle ich mich zunehmend fremdbestimmt. Und am liebsten würde ich lieber heute als morgen alles hinschmeißen. Aber auf der anderen Seite, kann ich nicht. Ich würde gern, aber es geht nicht. Ich kann nicht. Ich sehe keine Möglichkeit, da auszubrechen, weil ich halt diese Verpflichtungen habe und weil mich dieser Job in gewisser Weise fesselt.

Du hast viele männliche Klienten, oft Ende 40 oder schon über 50. Warum trifft dieses Gefühl gerade Männer in der Lebensmitte? Was passiert da psychologisch, wenn es auf einmal Klick macht und sie sagen: „Oh Gott, ich bin im goldenen Käfig“?

Ja, absolut. Ich denke, diese berüchtigte sogenannte Lebensmitte, wo die auch immer liegt, ist dafür prädestiniert aus verschiedenen Gründen. Und es trifft viele Männer, es trifft auch Frauen, so ist es nicht, aber es trifft vor allem Männer einfach deshalb, weil Männer meistens die Hauptverdiener sind, immer noch oder sehr häufig. Weil einfach sehr viel von deren Einkommen abhängig ist und weil sie sich auch noch häufiger, nicht ausschließlich, aber noch häufiger über die Rolle, über Status identifizieren und sich dann nicht vorstellen können, kleiner zu spielen, obwohl es ihnen innerlich, vom Gefühl her, besser täte. Und was passiert da? Die Lebensmitte ist eine typische Transitionsphase. Es gibt mehrere im Leben, das ist auch wissenschaftlich erforscht. Dazu hast Du, glaube ich, auch schon mal eine ganz tolle Frau interviewt, wenn ich mich richtig erinnere, die lange über dieses Thema geforscht hat. Und da findet einfach eine Veränderung der Identität statt. Also das heißt, es verschieben sich Prioritäten im Leben.

Es werden andere Dinge wichtig. Man geht in der Regel weg von Kompetenz-, Macht- und Statusstreben hin zu mehr Sinn, zu Bedeutung, etwas zu hinterlassen, Spuren zu hinterlassen, die Delle im Universum, Dinge weiterzugeben. Männer wie Frauen werden in gewisser Weise weicher und sind mehr auf die Gemeinschaft ausgerichtet. Das ist ein ganz normaler Prozess, der zum Menschsein einfach dazugehört. Den gibt es auch in anderen Kulturen, und in manchen alten, ursprünglichen Kulturen, werden solche Übergänge sogar als Ritual gefeiert. Bei uns nicht. Bei uns sagt man eher „Der ist wohl in der Midlife-Crisis“ und belächelt das.

Ich sage immer, sei froh, wenn Du drin bist. Weil jeder, der die verpasst, hat wirklich was verpasst im Leben, weil das noch mal ein Korrektiv sein kann. Also das Leben verändert sich und es kommt hinzu, dass auch von außen, im Umfeld, in dieser Phase sehr viel passiert. Da kommen die ersten Einschläge bezüglich Krankheiten, Todesfälle. Da gehen die Kinder entweder aus dem Haus, was viele emotional beeinträchtigt, oder sie brauchen einfach noch sehr viel Geld, weil sie studieren und Unterstützung brauchen.

Dann werden Eltern allmählich gebrechlich, vielleicht sogar pflegebedürftig. Da muss man sich um das Thema kümmern. Dann hat man auch gerade zurzeit die Sorge um den Job, um die wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Entwicklung des Landes etc. Also es ist eine sehr dicht gepackte Phase. Und in dieser Lebensphase sind gerade die, die berufstätig sind und gute und verantwortungsvolle Jobs haben, auf einem Höhepunkt. Ich will damit nicht sagen, dass es danach bergab geht. Aber man ist einfach voll gefordert. Man hat einen Job, der einen echt fordert, wo es wirklich um was geht. Und diese ganze Gemengelage von der menschlichen, psychologischen Entwicklung her, wie auch den äußeren Einflüssen und der Tatsache, dass wir uns in großen Teilen über unseren Job, über unsere Berufstätigkeit identifizieren, das alles führt dazu, dass man in dieser Zeit dafür besonders anfällig oder empfänglich ist.

Du hast jetzt wunderbar wiedergegeben, warum ich diesen Podcast mache. Das eine oder andere, was Du gesagt hast, findet sich auch in Podcasts mit anderen Gästen. Das gefällt mir wunderbar… Du hast gesagt, dass sich die Menschen in dieser Lebensphase auf einem Höhepunkt oder Plateau befinden und dass auch das Geld binden kann. Trotzdem: Welche Rolle spielt das Thema Geld wirklich, wenn jemand sagt „Ich kann es mir nicht leisten auszusteigen“? Steckt da manchmal ein anderes, ein emotionales Thema dahinter?

Ich glaube, das Geld kann man nicht wegdiskutieren. Das ist sicherlich ein Thema. Nur, wie relevant der finanzielle Aspekt wirklich ist, das stelle ich gerne in Frage. Da gilt es einfach mal genauer hinzugucken. Ist das wirklich so, dass ich woanders nicht so viel Geld verdiene? Und wenn es so ist, brauche ich das wirklich? Oft wissen die Leute gar nicht, was sie wirklich brauchen und wie weit sie reduzieren könnten. Und gibt es vielleicht Möglichkeiten, die mir zusätzlich zum Einkommen noch etwas bringen könnten?

Also ich finde, das muss man immer hinterfragen, denn das ist schnell gesagt: „Ich habe einen Lebensstandard, den ich halten will. Das heißt, ich kann nicht weniger Geld verdienen.“ Das ist aus meiner Sicht zu einfach. Und was halt oft auch dahintersteckt, ist, dass man dieses „Downgrading“, dieses Kleinere-Brötchen-backen, emotional gerne machen würde, aber das eigene Ego es oft einfach nicht erlaubt, so dass man sagt: „Ich kann nicht. Was sollen denn die anderen denken, wenn ich jetzt plötzlich meinen Job kündige und mich als Berater oder Coach selbstständig mache. Die denken doch dann: „Der hat es wahrscheinlich nicht geschafft.“ Also man fühlt sich da in seiner Identität angegriffen. Das erlebe ich sehr oft.

Ich arbeite viel mit Leuten, die aus diesem Hamsterrad aussteigen wollen oder schon raus sind. Und es ist immer so, dass die Leute erstmal in ein großes Loch fallen, aus verschiedenen Gründen, aus finanziellen Ängsten, aber auch, weil sie sagen „Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin. Ich bin plötzlich niemand. Mir war gar nicht klar, wie stark ich mich über diese Rolle identifiziert habe. Es ist total komisch für mich, dass ich das nicht mehr darstellen kann, dass ich nicht mehr sagen kann „Ich bin der Sowieso von der Firma Sowieso. Und was auch schwierig ist: Ich gehöre irgendwie nirgendwo mehr so richtig dazu.“ Das ist wirklich ein Identitätsproblem, was da zuschlägt.

Du hast gerade ein ganz wichtiges Wort gesagt: das eigene Ego. Ist das Ego auch der Grund dafür, warum es so schwer ist, sich die eigene Unzufriedenheit einzugestehen? Weil irgendwann muss ich ja sagen: „Ich bin jetzt nicht mehr zufrieden. Gehalt hin, Titel her. Ich bin unzufrieden!“

Ich weiß nicht, ob das das Ego ist. By the way: Das Ego ist ja nicht nur schlecht. Das will ich an der Stelle nochmal sagen. Ich habe den Begriff jetzt eher negativ verwendet, aber das Ego ist durchaus auch berechtigt. Man darf ein gewisses Ego, man muss ein gewisses Ego haben.

Ich glaube, das sind eher ganz ehrliche Ängste vor den Konsequenzen. Denn was ist denn, wenn ich mir eingestehe, dass ich nicht mehr zufrieden bin, aber trotzdem nicht raus kann? Dann weiß ich ja schon, dass etwas stimmt nicht. Aber ich weiß keinen Ausweg. Und dann hat man halt einfach Angst. Das geht hin bis zu echter Existenzangst, echter Panik. Und was dann hilft, ist, dass man versucht, sich ein neutrales, realistisches, objektives Bild zu verschaffen. Das ist manchmal nicht ganz einfach, vor allem, wenn man das alleine macht, weil man halt in seiner Suppe drinsteckt. Und was dann auch noch ein Thema ist: Man will andere nicht vor den Kopf stoßen und enttäuschen. Ich will nicht, dass meine Frau, mein Mann oder meine Kinder plötzlich auf dieses oder jenes verzichten müssen. Die sind das so gewöhnt. Wir zahlen halt alles für den Junior, der im Studium ist.

Ja, was ist so schlimm? Es ist ja vielleicht sogar gut, wenn der nebenbei ein bisschen jobbt und seine Studentenbude selbst bezahlt. So wie ich und Du vielleicht auch das machen mussten. Da fühlt man auch in seiner Verantwortung für andere, gerade die Familie, dass man ein Stück weit versagt hat. Und dann sagt man: „Dann bleibe ich lieber im Zwang.“

Und dann kommt auch nochmal dieser Gedanke ins Spiel, dass man der Ernährer ist oder der Hauptversorger.

Ja, das ist oft so.

Business Coachin Sabine Votteler
Business-Coachin Sabine Votteler (Foto: Christian Kasper)
Und ich kann ja jetzt nicht als Bollwerk der Familie zusammenbrechen. Du kennst die Unzufriedenheit. Dann gibt es schlaflose Nächte. Das alles kennst Du aus Deiner eigenen Geschichte. Wann kommt in Deinen Coachings meist der Punkt, an dem Dein Klient merkt „So geht es nicht mehr weiter“? Gibt es typische Schlüsselmomente, wo es Klick macht?

Leider macht es bei vielen erst Klick, wenn es an die Gesundheit geht. Wenn sie keine Nacht mehr richtig schlafen können oder schlimmer, wenn sie in einem Burnout landen. So ist es mir passiert. Bei mir hat es auch nicht vorher Klick gemacht, leider. Und das ist nur eine Form von Ereignis. Es gibt aber auch andere Ereignisse, die einen wachrütteln können und in einem ganz anderen Bereich liegen. Ich habe zum Beispiel einen großen Zulauf in der Zeit von Corona bekommen. Ich führe das darauf zurück, dass viele durch die Pandemie zum Nachdenken gekommen sind. Dass sie gesagt haben, Mensch: „Hier sterben jetzt sogar Leute. So schnell kann es vorbei sein. Macht das, was ich tue, überhaupt Sinn? Will ich so weitermachen?“ Und so kann es eben passieren, dass irgendwas im Umfeld los ist, wo man plötzlich aufwacht und merkt: „Oh Mann, ich sollte das vielleicht doch ernster nehmen, was ich da spüre.“

Oder man wird einfach vor vollendete Tatsachen gesetzt. Das muss nicht immer eine Kündigung sein. Das ist die ganz harte Nummer. Das kann auch ein Erlebnis sein, das gar nicht so dramatisch ist, aber in dem Moment der Auslöser, der Trigger wird, zum Beispiel, dass man vom Chef übergangen wird. Und vielleicht haben wir das schon öfter erlebt und immer wegsteckt und gesagt: „Ja komm, der ist halt so. Ich suche mir woanders meine Bestätigung.“ Aber in dem Moment hat es einen einfach getroffen, hat es einen verletzt und dann geht der Prozess los. Dann sagt man „Das kann nicht sein, so kann ich nicht weitermachen“.

Gehen wir mal weiter auf der Reise des Mannes. Er gesteht sich also ein: „Ich bin unzufrieden.“ Was rätst du Menschen, die spüren, dass etwas nicht stimmt, die aber noch keine Klarheit haben, was sie eigentlich wollen? Weil Unzufriedenheit heißt ja: „Ich weiß, was ich nicht will.“ Aber es heißt noch nicht unbedingt: „Ich weiß, was ich will.“

Es ist schon mal gut, wenn man weiß, was man nicht will. Das ist zumindest ein Startpunkt. Dann sollte man genauer hingucken und analysieren, womit man unzufrieden ist. Was ist das, was einen wirklich stört? Wo kommen diese Gefühle her, wo man denkt: „Jetzt rege ich mich wieder auf“ oder „Es frustriert mich total“ oder „Davor habe ich Angst“? Auch Männer dürfen sich das eingestehen. Die haben auch Angst. Ich habe Kunden, auch männliche Kunden, die sagen: „Ich habe vor jedem Management-Meeting Angst. Weil ich weiß, da kann es mich wieder total zerlegen. Ich habe einen Geschäftsführer, der kennt kein Pardon. Der geht unter die Gürtellinie vor versammelter Mannschaft.“ Solche Kunden habe ich tatsächlich.

Es ist gut, wenn man weiß, was es ist, ob es mit bestimmten Menschen oder Aufgaben zusammenhängt. Das kann ja auch sein. Das kann auch eine latente Langeweile sein. Etwas, von dem ich sage: „Das mache ich jetzt so lang. Ich kann es nicht mehr sehen. Das macht mir null Freude.“ Auch das darf sein.

Natürlich kennen wir Sprüche wie „Das Leben ist kein Ponyhof“. Und in Teilen ist das auch richtig. Es ist gut, wenn man sich mal durchbeißt. Aber wenn man dauerhaft unzufrieden ist, dann ist das ein Zeichen, das kommt nicht von nichts. Das ist nicht einfach irgendeine sinnlose Reaktion, sondern eine, die Sinn macht. Die Möglichkeit, dass wir Unzufriedenheit spüren, ist für was gut. Dann gilt es herauszufinden: Wer ist es? Was genau ist es? Wann tritt es auf? Wo sind Gemeinsamkeiten?

Und dann würde ich als Zweites überlegen: „Kann ich daran in der heutigen Situation etwas ändern?“ Denn manchmal ist es so, dass man nicht alles über den Haufen schmeißen muss. Manchmal ergeben sich Möglichkeiten im Job oder der gleichen Firma etwas zu verändern. Ich habe schon Leute gehabt, die gesagt haben: „Eigentlich ist mein Job gar nicht schlecht. Die Tätigkeit an sich, das Thema, das interessiert mich immer noch. Aber ich habe keine Lust mehr auf Führung. Mich regen einfach die ganzen Mitarbeiter auf. Dass die nicht mitziehen.“ Das soll kein Mitarbeiter-Bashing sei, aber sowas gibt es.

Vielleicht kannst Du das Gespräch mit Deinem Vorgesetzten suchen, ob du nicht in eine andere Position wechseln kannst, zum Beispiel in eine Projektfunktion. Erst, wenn man weiß, was es genau ist, kann man überlegen, wie weit man gehen muss, um die Situation zu verändern, um wieder zufriedener zu werden.

Du hast jetzt beschrieben, wie man herausfindet, was einen triggert, was des Pudels Kern ist, warum man nicht mehr glücklich ist in dem Job. Der nächste Schritt wäre ja wahrscheinlich zu sagen: „Okay, ich weiß jetzt, was die Trigger sind. Was ist mir denn wirklich wichtig?“ Abseits von Karriereleitern oder Titeln. Wie finde ich das heraus?

Da kommen wir ganz schnell auf Werte zu sprechen. Das ist ein so wichtiges Thema, das von vielen unterschätzt wird. Ich war auch so eine Kandidatin. Ich komme aus dem Schwabenland, das hört man vielleicht. Ich versuche es auch nicht großartig zu verbergen. Und hättest Du mich noch vor zehn Jahren nach meinen Werten gefragt, hätte ich wahrscheinlich sowas gesagt wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit. Also eher typisch schwäbische Tugenden. Das sind aber gar nicht meine wirklichen Werte. Und es macht richtig viel Sinn, sich das mal anzuschauen.

Was sind meine wichtigsten Werte? Jetzt kann man versuchen, die irgendwie aus dem Handgelenk zu schütteln. Dazu gibt es aber auch Übungen. Man kann einfach mal „Werte herausfinden“ googeln. Da findet man mit Sicherheit was. Und das ist super wichtig zu verstehen, was meine Werte sind. Das heißt: Was ist mir grundsätzlich wichtig im Leben? Und was bedeutet das für mich?

Ein wichtiger Wert für mich ist Freiheit. Und wenn Du den gleichen Wert hast, ist das für dich wahrscheinlich was Anderes. Du verstehst unter Freiheit was Anderes als ich. Und das ist wichtig zu verstehen, was das konkret für mich ist. Freiheit bedeutet für mich nicht digitales Nomadentum. Ich muss nicht dauernd unterwegs sein. Für mich ist Freiheit die mentale Freiheit, dass ich denken und tun kann, was ich will. Und dann ist die Frage: Wie kann ich das realisieren? Kann ich das überhaupt in einem angestellten Job hinkriegen? Gibt es Jobs, wo das möglich ist? Wenn ja, welche Voraussetzungen brauchen die und wie finde ich das raus?

Für mich waren meine drei wichtigsten Werte der ausschlaggebende Punkt, dass ich auch das allerletzte genialste Jobangebot, das ich damals bekommen habe, abgelehnt habe, weil ich gesagt habe: Ich komme wieder in die gleiche Misere. Das sehe ich jetzt schon. Weil ich diese Werte nicht leben kann, nicht so, wie ich es mir vorstelle. Und dann werden Werte zu einem ganz tollen Wegweiser, zu einer Entscheidungshilfe. Dann kann man Entscheidungen viel schneller und viel leichter treffen. Und wenn man diese Werte kennt, dann kann man mal gucken: Wie werden die eigentlich in meinem jetzigen Job erfüllt? Und dann wirst Du vermutlich sehen: nicht besonders gut. Bei mir war es so, dass meine drei wichtigsten Werte 0,0 erfüllt wurden. Die habe ich total abschreiben müssen in meinem letzten Job, wo ich noch angestellt war.

Einer davon war Freiheit…

Freiheit, Wirksamkeit. Das heißt, es muss was rauskommen, wenn ich was mache. Das muss ich irgendwie sehen und spüren können. Und das dritte war Weiterentwicklung, Wachstum. Ich will lernen. Ich will weiterkommen. Und bei allen dreien habe ich mich gefühlt, als hätte ich die immer an der Rezeption, an der Garderobe abgeben müssen. Da war nichts mehr davon übrig. Und dann ist es mir selber wie Schuppen von den Augen gefallen. Und ich dachte mir, jetzt ist ja alles klar. Kein Wunder, dass das bei mir nicht mehr funktioniert hat. Dass ich mich zu Tode gerannt habe, immer hinter meinen eigenen Werten her, aber ich konnte sie gar nicht leben. Und dass das letzten Endes zu so etwas führen kann wie einen Burnout, das ist eigentlich logisch.

Also erster Schritt: Die eigenen Werte kennenlernen und abgleichen mit der Arbeit, die man gerade macht. Und dann sieht man die Differenzen. Was können noch erste kleine Schritte sein, wenn man noch nicht gleich kündigen, aber etwas verändern will?

Wichtig ist, sich selbst zu kennen. Ich muss wissen, wer bin ich, was ich mitbringe, worin ich Erfüllung, Zufriedenheit finde. Das hat ganz viel auch mit Spaß zu tun. Ja, Spaß darf auch im Job sein. Es hat auch mit Leidenschaft und Interesse zu tun. Und was will ich in Zukunft? Das ist auch so eine schwere Frage für die meisten. Was will ich? „Mh, weiß ich eigentlich nicht.“ Oder: „Eigentlich geht es mir gar nicht schlecht.“ Und dann: „Ja, aber irgendwie vielleicht ein bisschen mehr Wirksamkeit oder mehr Selbstbestimmung.“ Dann sage ich: Das ist doch schon mal gut. Es ist zwar relativ allgemein und wir müssen überlegen, wie Du das kriegst. Aber das ist ein gutes Ziel, das ist ein guter Wunsch. Das heißt, Du solltest herausfinden, wer Du selber bist. Und dazu gehört auch, was Deine Fähigkeiten sind, was Deine Stärken sind.

Ich identifiziere das gern mit einer Übung, die fast all diese Punkte erschlägt: Schau Dir doch mal Dein Leben bis heute an und guck, welche Ereignisse es gab, die Dir spontan in den Sinn kommen. Meistens sind es entweder Sachen, die super gelaufen sind, oder Sachen, wo es nicht gut gelaufen ist. An alles andere erinnern wir uns nicht mehr so gut. Und das darf oder sollte sogar, wenn es dir möglich ist, ganz früh in der Kindheit beginnen. Also wirklich das erste Erlebnis, wo du vielleicht etwas mit Freunden gemacht hast oder mit der Oma oder mit wem auch immer. Schreibe etwa 15 bis 20 Ereignisse auf, an die Du Dich erinnern kannst. Und überlege dann für jedes Ereignis separat, was da passiert ist, wie die Rahmenbedingungen, wie die Umstände waren, wo Du warst, wer dabei war. Im Prinzip geht es darum, was da eine Rolle gespielt hat, dass dieses Ereignis für Dich so merkwürdig geworden ist.

Welche guten und welche schlechten Dinge gab es? Dinge, die Du getan hast. Dinge, die Du nicht tun durftest. Dinge, die andere mit Dir gemacht haben. Und wenn man das ausführlich macht, dann findet man Muster. Und dann kann man auch richtig gut erkennen: Immer, wenn ich in dem und jenem Umfeld war, dann hat es gut geklappt. Oder: Immer, wenn ich dieses oder jenes unterdrücken musste oder nicht tun durfte oder diese Fähigkeit nicht einsetzen durfte oder ich nicht so sein durfte, dann ist es nicht gut gelaufen. Man kommt dann solchen Mustern auf die Spur, solchen Gemeinsamkeiten und in denen stecken Deine Stärken. Die sind dann sichtbar. Was ist das, was dich wirklich interessiert? Da kommt man auf eine tiefere Ebene.

Dann waren das damals vielleicht Matchbox-Autos oder Fischertechnik. Wir müssen natürlich dann gucken, was drunter steckt. Was war das Tolle an den Matchbox-Autos? Oder was genau hat Dich an der Fischertechnik gereizt? Und dann wirst Du feststellen, dass Du damals schon ein kleiner Bastler und Kniffler warst. Und das ist bis heute geblieben. Das hat auch mitbestimmt, was für einen Job Du gewählt hast, was Du studiert hast. Und dann stellt man vielleicht fest: Mist, der Kniffler, der Bastler ist jetzt gar nicht mehr da. Der darf gar nicht mehr raus. Der muss jetzt bloß noch führen. Und auf einmal hast Du Erkenntnisse. Und darum geht es, diese Erkenntnisse zu haben.

Das klingt super spannend, aber so weit weg von dem, wie man es denken würde. Man denkt vielleicht: Ich möchte mich neu orientieren. Was habe ich denn in meinem beruflichen Lebenslauf, nicht in meiner Biografie weit zurück, drinnen stehen. Was kann ich? Was habe ich gelernt? Und das ist ja viel zu kurz gesprungen. Da bleibt man eigentlich immer an der Oberfläche, oder?

Total. Da bleibt man in diesem immer gleichen Umfeld, im Hamsterrad stecken. Das ist auch genau der Grund, warum ich fest davon überzeugt bin, dass eine normale, herkömmliche Karriereberatung oder auch Headhunting bei einer Transition in der Lebensmitte nicht funktioniert. Weil das immer auf dem basiert, was schon da ist, und immer im gleichen Saft wühlt. Natürlich sucht ein Headhunter für seine Mandanten Profile, die auszeichnen, dass der Mensch das, was man sucht, schon gemacht hat. Und genau das ist leider das, was man oft gar nicht mehr will. Und deshalb müssen wir in anderen Bereichen suchen.

Verstanden. Einige Deiner Klienten, wahrscheinlich eine ganze Reihe, machen sich dann doch auf und sagen: „Okay, ich wage den Sprung, ich mache mich selbstständig.“ Wie kann man diesen Übergang gestalten, dass er nicht zur Bruchlandung wird? Wir haben ja schon von den finanziellen Ängsten gehört, Männer als Hauptversorger… Wie kann man das gestalten?

Hier ist wieder die Grundlage, zu wissen, was ich mitbringe, zu wissen, was ich will. Das ist die schwierigste Aufgabe für die meisten. Es ist wahrscheinlich auch schwer, das selbst zu machen. Ich sage immer gerne diesen Spruch: „Wer im Marmeladenglas sitzt, der kann nicht sehen, was außen auf dem Etikett draufsteht.“ Das heißt, da ist ein Außenblick ganz gut. Das muss jetzt nicht unbedingt ein professioneller Coach sein. Das kann auch jemand anderes sein, der einen gut kennt und der kritisch hinterfragen kann.

Und dann geht es in meiner Denke immer darum zu schauen, wo der Mehrwert dieser Person ist. Und dieser Mehrwert, der kann ausgelebt werden oder auch an den Mann, an die Frau gebracht werden in verschiedenen Formaten. Und ein Format ist eben, dass ich als Arbeitnehmer meinen Mehrwert einem Arbeitgeber zugutekommen lasse oder dass ich als Anbieter einer Leistung meinen Mehrwert Kunden zugutekommen lasse. Im Prinzip ist es nicht so viel Anderes. Es geht immer darum, was der Mehrwert ist und welche Probleme ich mit diesem Mehrwert lösen kann, besser als andere. Die meisten denken: Ich kann es auch nicht besser als andere. Das können Millionen andere auch, was ich kann. Da sage ich immer: „Jein. Achtung, unterschätze nicht, was Du erlebt hast, was Du schon durchgemacht hast.“ Und auch da spielt das private Leben eine Rolle, nicht nur das berufliche. Also welche Situationen hast Du schon erlebt? Und das macht meistens dann auch den Mehrwert aus. Dann ist die Frage: Wer braucht das? Wer hat dieses Problem, dass er jemanden braucht, der ihm dieses Problem löst, der ihn bei diesem Problem unterstützt? Und daraus wird dann letzten Endes das Angebot.

Und natürlich ist das ein Riesensprung für die allermeisten. Also ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen Kunden gehabt zu haben, der gesagt hat: „Angst habe ich nicht. Ich mache das jetzt einfach.“ Das gibt es, glaube ich, nicht.

Mann, der sich Hand vor Gesicht hält.
Menschen, die ihren goldenen Käfig realisieren, fallen erstmal in ein Loch (Foto von Adrian Swancar auf Unsplash )
Das wäre eine coole Socke.

Ja, das wäre eine ganz coole Socke. Oder er hätte halt einfach ein extrem großes Polster, auf das er sehr weich fallen würde. Wobei, das ist auch so eine Erkenntnis, auch die dicksten Polster schützen nicht vor Existenzangst. Und damit der Sprung nicht so radikal ist, gibt es die Möglichkeit des sogenannten Prototypings, was ich sehr gerne nutze. Das heißt, ich muss nur in etwa wissen, was ich machen könnte und wer das brauchen könnte. Und dann fange ich mit ersten Tests an. Und erste Tests, die können erstmal ganz low-levelig sein, ganz niedrigschwellig. Ich spreche beispielsweise mal mit ein paar Leuten, die von der Aufgabe, von dem Problem und der Branche mehr wissen als ich. Ich führe einfach nur informative Gespräche.

Es geht nicht darum, da schon zu versuchen, eine Leistung zu verkaufen. Das wäre der total falsche Zeitpunkt und der falsche Ansatz. Es geht nur darum, mehr über das Thema herauszufinden und mehr Sicherheit darüber zu gewinnen, wo denn das Problem und die Herausforderungen wirklich liegen, was da bisher dagegen gemacht und unternommen wurde, was funktioniert, was nicht funktioniert, wo ich vielleicht eine bessere Lösung zur Verfügung stellen könnte, wie die Bereitschaft da draußen ist, sowas überhaupt in Anspruch zu nehmen und so weiter.

Dadurch lerne ich mehr über das Thema, das macht mich sicherer, und ich lerne Leute kennen. Leute, die ich vorher nicht in meinem Netzwerk hatte. Und das ist ein genialer Nebeneffekt, weil Du dadurch neue Anknüpfungspunkte findest, weil da Inspirationen kommen, weil da noch zusätzliche Ideen kommen.

Ich habe einen Kunden, den ich immer mal wieder gerne erwähne, weil es bei dem so krass war. Der wollte sich überhaupt nicht selbstständig machen. Der kam zu mir und wollte die Branche wechseln. Und auf keinen Fall selbstständig werden, auf gar keinen Fall. Und ich dachte: Okay, Dein Wunsch ist mir Befehl. Du musst Dich nicht selbstständig machen. Manche kommen irgendwie zufällig bei dem Format der Selbstständigkeit raus, aber es muss ja nicht. Mit ihm habe ich dieses Prototyping gemacht. Das mache ich auch mit denen, die eine Anstellung wollen. Das heißt Gespräche führen. Übrigens gibt es auch Kunden, die Praktika oder mal am Wochenende irgendetwas pro bono machen und damit irgendwo reinschnuppern, was sehr viel hilft. Und dieser Mensch hat Gespräche geführt, weil er sich über die neue Branche, in der er sich bewerben wollte, informieren wollte. Dabei ist er immerzu von den Leuten angesprochen worden, die ihm komplett fremd waren, warum er sich eigentlich nicht selbstständig macht.

Er kam dann zu mir zurück und sagte: „Sabine, ich weiß auch nicht, das ist echt merkwürdig. Jetzt hat mich schon wieder jemand gefragt. Das ist ja jetzt schon auffällig. Vielleicht muss ich mir das doch nochmal durch den Kopf gehen lassen.“ Und dann kamen noch zwei, drei andere Zufälle mit Menschen dazwischen und auf einmal hatte er eine Geschäftsidee. Und zwar eine, die ihm total auf den Leib geschneidert war, weil sie seine spezifische Erfahrung in der Geschäftsführung kombiniert hat mit einer sehr persönlichen Erfahrung. Es ging dabei um Geschäftsführer, die kurzfristig ausfallen, zum Beispiel aufgrund einer schweren Krankheit, und was dann mit dem Unternehmen passieren würde. Er hat das selbst erlebt. Er ist als Geschäftsführer sehr schnell aufgrund einer Krebserkrankung ausgefallen. Und dadurch kann er sehr gut nachempfinden, was das auslöst, was dann zu klären ist, was blöd ist, wenn es nicht geklärt ist, etc.

Eine Wahnsinnsgeschichte!

Ja, und die ist wirklich wahr. Und so kommt man über das Prototyping Schritt für Schritt weiter. Und das ist, wie soll ich sagen, der Trick? Eigentlich nicht. Das Geheimnis? Nee, das ist der Weg, den man sich so schlecht vorstellen kann, wenn man schon jahrzehntelang damit lebt, dass man erstmal einen Plan braucht, bevor man was macht. Und das ist total kontraintuitiv, wenn ich sage: „Wir brauchen nur ganz grob die Richtung, sonst brauchen wir gar nichts. Und dann legst Du los und fängst an, Gespräche zu führen.“ Und es ist wirklich toll, wie sich dann oft dieser Weg vor die Füße legt, wie der sprichwörtlich im Gehen entsteht. So läuft das dann ab. Und dann muss man auch keine große Angst mehr haben, weil man einfach das Selbstvertrauen findet, wenn man sagt: „Oh, das kommt ja an. Oh, ich kriege ja überall Zuspruch. Oh, mir macht das Spaß. Oh, ich bin total on fire!“ Und das befördert, das beflügelt natürlich alles und macht es leichter.

Und by the way: Man kann auch nebenberuflich starten. Das machen viele. Es gibt immer mehr Unternehmen, die sich auch in Führungspositionen auf sowas einlassen. Wo man sagen kann: „Ich arbeite jetzt einfach nur vier Tage die Woche, ich brauche einen Tag für mich. Ich möchte mir meine Selbständigkeit aufbauen oder ich möchte nebenbei beraten.“ Man kann mit der Zeit die Gewichtung verschieben – fade in, fade out –, wenn man dann Kunden hat und es gut läuft.

Das ist auch ein wichtiger Punkt, was die Selbstständigkeit anbelangt. Früher dachte ich immer, dass das schwarz oder weiß ist. Entweder kriegst Du das hin oder Du scheiterst gnadenlos und fährst alles gegen die Wand. Aber das ist nicht so, weil man das ja vorher merkt, wenn man es richtig angeht. Man merkt das vorher, wenn es nicht so richtig läuft, wenn ich keine Kunden kriege. Und dann muss man das nicht hinschmeißen. Dann überlegt man sich: Wie geht es dann? So geht es nicht. Aber wie dann? Was kann ich, was muss ich ändern? Und dann macht man halt wieder eine iterative Schleife. Und das ist das Geniale bei diesem Prototyping. Ich mache nicht alles fertig und sage dann: „Oh Gott, das funktioniert gar nicht – wegschmeißen!“ Sondern ich nähere mich langsam in Schritten an.

Titelfoto von Adrian Swancar auf Unsplash

Episode bei Spotify oder Apple Podcasts hören:

Interessante Links:

Sabine Votteler im Netz: https://sabinevotteler.com/

Sabine Vottelers Podcast „Manager in Transition“: https://open.spotify.com/show/3rrcnLW0ruVz94nzLEc907?si=7a91f67fbdaa49ad

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